In Betreuungsverfahren ist Sachverständigengutachten grundsätzlich mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen persönlich bekanntzugeben

BGH, Beschluss vom 26. September 2018 – XII ZB 395/18

In einem Betreuungsverfahren ist das Sachverständigengutachten grundsätzlich mit seinem vollen Wortlaut an den Betroffenen persönlich bekanntzugeben; davon kann nur unter den Voraussetzungen des § 288 Abs. 1 FamFG abgesehen werden (im Anschluss an Senatsbeschlüsse vom 28. März 2018, XII ZB 168/17, FamRZ 2018, 954 und vom 14. Februar 2018, XII ZB 465/17, FamRZ 2018, 705).(Rn.7)

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 7. Zivilkammer des Landgerichts Aurich vom 20. März 2018 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Landgericht zurückverwiesen.

Wert: 5.000 €

Gründe
I.

1
Das Amtsgericht hat für die 1966 geborene Betroffene nach Einholung eines Sachverständigengutachtens, Bestellung eines Verfahrenspflegers und persönlicher Anhörung eine rechtliche Betreuung eingerichtet. Es hat die Beteiligte zu 1 zur Berufsbetreuerin mit den Aufgabenkreisen „Sorge für die Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung, Entscheidung über die Unterbringung, Entscheidung über die unterbringungsähnlichen Maßnahmen, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post sowie Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten“ bestellt und eine Überprüfungsfrist auf zwei Jahre bestimmt. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht ohne erneute Anhörung der Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen.

II.

2
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.

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1. Das Beschwerdegericht hat ausgeführt, dass der Sachverständige eine chronisch paranoide Schizophrenie mit Realitätsverlust und Selbstgefährdung diagnostiziert habe. Sämtliche Gedanken der Betroffenen würden um eine Bedrohungssituation kreisen, so dass die Betroffene nicht mehr in der Lage sei, ihre häusliche Versorgungsproblematik, Hygienedefizite und medizinische Aspekte realistisch einzuordnen. Der mit der paranoiden Symptomatik einhergehende Realitätsverlust stelle eine latente Gesundheitsgefährdung für die Betroffene dar, die in ihrem Haus wegen massiver Vermüllung und Verwahrlosung aus ärztlicher Sicht nicht mehr wohnen könne. Die Betroffene sei nicht in der Lage, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen und könne auch ihren freien Willen unbeeinträchtigt von ihrer Erkrankung nicht selbst bilden und danach handeln.

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2. Die Entscheidung beruht auf verfahrensfehlerhaft getroffenen Feststellungen.

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a) Ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde allerdings fehlende Feststellungen zur fachlichen Qualifikation (§ 280 Abs. 1 Satz 2 FamFG) des gerichtlich bestellten Sachverständigen. Denn das Amtsgericht hat in den Gründen seiner vom Beschwerdegericht gebilligten Entscheidung ausgeführt, dass der mit der Gutachtenerstellung beauftragte Leitende Medizinaldirektor ein Arzt „mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie“ sei. Dies ist mit Blick auf die hauptberufliche Tätigkeit des Sachverständigen im Gesundheitsamt des Landkreises und unter Berücksichtigung der psychiatrischen Weiterbildungsinhalte, die der Erlangung der von dem Sachverständigen geführten Bezeichnung eines „Facharztes für öffentliches Gesundheitswesen“ zugrunde liegen (vgl. Weiterbildungsordnung der Ärztekammer Niedersachsen in der Fassung vom 1. Juni 2018 S. 91, veröffentlicht auf www.aekn.de) auch durchaus nachvollziehbar.

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b) Demgegenüber rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass das Gutachten des Sachverständigen der Betroffenen mit seinem vollen Wortlaut persönlich hätte zur Verfügung gestellt werden müssen.

7
aa) Die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache setzt gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit des Betroffenen (§ 275 FamFG) grundsätzlich auch ihm persönlich zur Verfügung zu stellen. Davon kann nur unter den Voraussetzungen des § 288 Abs. 1 FamFG abgesehen werden (vgl. Senatsbeschlüsse vom 28. März 2018 – XII ZB 168/17FamRZ 2018, 954 Rn. 9 und vom 14. Februar 2018 – XII ZB 465/17FamRZ 2018, 705 Rn. 11 mwN).

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bb) Diesen Anforderungen wird das vorliegende Verfahren nicht gerecht.

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Weder aus den Feststellungen des Beschwerdegerichts noch aus den Gerichtsakten lässt sich entnehmen, dass der Inhalt des Gutachtens der Betroffenen mit seinem vollen Wortlaut zur Verfügung gestellt worden ist. Ausweislich des Protokolls des Amtsgerichts vom 26. Februar 2018 wurde das bei den Gerichtsakten befindliche Gutachten der Betroffenen lediglich im Rahmen des an diesem Tage durchgeführten Anhörungstermins „seinem wesentlichen Inhalt nach bekannt gegeben“. Dies genügt den verfahrensrechtlichen Anforderungen nicht, weil der Betroffenen damit die Möglichkeit genommen worden ist, sich auf den Anhörungstermin ausreichend vorzubereiten und durch die Erhebung von Einwendungen und durch Vorhalte an den Sachverständigen eine andere Einschätzung zu erreichen (vgl. Senatsbeschluss vom 16. Mai 2018 – XII ZB 14/18NJW-RR 2018, 964 Rn. 8).

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Von einer Bekanntgabe des Gutachtens mit seinem vollen Wortlaut konnte auch nicht entsprechend § 288 Abs. 1 FamFG abgesehen werden. Zwar hat der Sachverständige in seinem Gutachten ausgeführt, es bedürfe zur Vermeidung von erheblichen Gesundheitsnachteilen bei der Bekanntgabe der Entscheidungsgründe „durchaus Beachtung von gewissen Umständen dahingehend, dass sich Frau H. von allen, z.B. auch Richtern bedroht und gefährdet“ fühle. Diesen Ausführungen lassen sich aber keine konkreten Aussagen dazu entnehmen, dass und gegebenenfalls welche Gesundheitsnachteile der Betroffenen gerade als Folge der Kenntnisnahme vom vollständigen Inhalt der Entscheidungsgründe (oder entsprechend vom vollständigen Wortlaut des Sachverständigengutachtens) drohen könnten. Vielmehr können die Ausführungen des Sachverständigen auch dahingehend zu verstehen sein, dass die Bekanntgabe in einer schonenden, die Betroffene möglichst wenig belastenden Weise – beispielsweise im Beisein geeigneter dritter Personen (vgl. MünchKomm/Schmidt-Recla FamFG 2. Aufl. § 288 Rn. 3) – empfohlen wird. Im Übrigen haben weder das Amtsgericht noch das Beschwerdegericht Bedenken daran getragen, der Betroffenen ihre Entscheidungen mit den vollständigen Entscheidungsgründen schriftlich auf dem Postwege bekanntzugeben.

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3. Die angefochtene Entscheidung kann daher keinen Bestand haben. Die Zurückverweisung der Sache gibt dem Beschwerdegericht zugleich Gelegenheit, weitergehende Feststellungen zum Vorliegen eines objektiven Betreuungsbedarfs in den von der Anordnung der Betreuung umfassten Aufgabenkreisen – und zwar insbesondere im Hinblick auf die Vermögenssorge – zu treffen. Zudem wird das Beschwerdegericht auf § 39 Satz 1 FamFG Bedacht zu nehmen haben.

12
4. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.

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