Zum Amtsermittlungsgrundsatz im Betreuungsverfahren

BGH, Beschluss vom 02.08.2023 – XII ZB 303/22

1. Auch wenn das Verfahren nicht mit einer Betreuerbestellung endet, kann die Amtsermittlungspflicht gemäß § 26 FamFG gebieten, den Betroffenen anzuhören und ein Sachverständigengutachten einzuholen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 13. Februar 2019 – XII ZB 485/18, FamRZ 2019, 736).

2. Dass die Angelegenheiten des Betroffenen durch einen Bevollmächtigten gleichermaßen besorgt werden können, setzt auch die Eignung des Bevollmächtigten dafür voraus, eine erhebliche Gefährdung für die Person des Betroffenen oder dessen Vermögen entgegen dessen geäußerten Wünschen abzuwenden, wenn der Betroffene die Gefahr aufgrund seiner Krankheit oder Behinderung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann (Fortführung von Senatsbeschluss vom 7. August 2013 – XII ZB 671/12, FamRZ 2013, 1724).

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerden der weiteren Beteiligten zu 1 und 2 wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Münster vom 27. Juni 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Eine Festsetzung des Beschwerdewerts (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.

Gründe
I.

1
Der 40-jährige Betroffene musste sich im Alter von 16 Jahren wegen einer medikamentös nicht behandelbaren Epilepsie einer Hirnoperation unterziehen. Ab dem Jahr 2007 folgten wiederholt stationäre Aufenthalte des Betroffenen in psychiatrischen Kliniken teilweise auf freiwilliger Basis, teilweise auf der Rechtsgrundlage einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung. Im Rahmen vorangegangener Begutachtungen hatten Fachärzte unterschiedliche psychiatrische Diagnosen – u.a. exazerbierte undifferenzierte paranoide Schizophrenie und organische Schizophrenie sowie organische Wesensveränderung nach Läsionektomie; hirnorganisches Psychosyndrom; katatone Schizophrenie, organische Persönlichkeitsstörung und Epilepsie – gestellt, wobei jeweils von einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung mit Eigen- und/oder Fremdgefährdung ausgegangen wurde. Der Betroffene lebte im Übrigen zeitweise in betreuten Einrichtungen, bei seinen Eltern oder war obdachlos.

2
Im August 2016 wurden die Mutter des Betroffenen (Beteiligte zu 1) als Betreuerin und sein Vater (Beteiligter zu 2) als Ersatzbetreuer mit dem Aufgabenkreis Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitssorge und Vermögensangelegenheiten bestellt. Mit weiterem Beschluss wurde der Aufgabenkreis um die Bereiche Heimplatzangelegenheit und Regelung des Postverkehrs erweitert.

3
Ab Oktober 2017 wurde der Betroffene mit Einwilligung seiner Mutter und mit betreuungsgerichtlicher Genehmigung zwangsweise mit dem Medikament Abilify behandelt. In der Folge verbesserte sich sein Gesundheitszustand, sodass die Betreuung im Januar 2019 aufgehoben wurde. Noch im selben Monat errichtete der Betroffene eine notarielle Vorsorgevollmacht, durch die er seinen Bruder (Beteiligter zu 3) als Bevollmächtigten und ein Mitglied eines Interessenverbands Psychiatrieerfahrener (Beteiligter zu 4) als Ersatzbevollmächtigten einsetzte. Die Vollmachturkunde enthält zudem eine Patientenverfügung, welche die Erstellung jeglicher psychiatrischer Diagnosen sowie sämtliche psychiatrischen Untersuchungen und Behandlungen ausschließt.

4
Die Eltern des Betroffenen regten ab Dezember 2019 mehrfach die Wiedereinrichtung der Betreuung an. Auf ihre erneute Anregung vom 27. September 2021 hat das Amtsgericht zweimal Termin zur persönlichen Anhörung des Betroffenen in dessen Wohnung bestimmt, ohne dass dieser die Tür geöffnet hat. Zum zweiten Termin ist der bevollmächtigte Bruder des Betroffenen erschienen. Daraufhin hat das Amtsgericht durch Beschluss vom 3. Januar 2022 festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Einrichtung einer Betreuung nicht vorliegen. Die hiergegen gerichteten Beschwerden der Eltern, mit welchen diese zusätzlich die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts angeregt haben, hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit ihren Rechtsbeschwerden erstreben sie weiterhin die Bestellung eines Berufsbetreuers nebst Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts.

II.

5
Die zulässigen Rechtsbeschwerden haben Erfolg. Sie führen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

6
1. Die Rechtsbeschwerden der Eltern sind zulässig. Sie sind gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG ohne Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft, obwohl vorliegend die Einrichtung einer Betreuung abgelehnt worden ist. Als im ersten Rechtszug beteiligte Angehörige des Betroffenen, deren Beschwerden zurückgewiesen worden sind, sind die Eltern gemäß §§ 303 Abs. 2 Nr. 1, 59 Abs. 1 FamFG auch beschwerdeberechtigt (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Februar 2019 – XII ZB 485/18FamRZ 2019, 736 Rn. 4 mwN).

7
2. Die Rechtsbeschwerden sind begründet.

8
a) Das Landgericht hat – unter weitgehender Bezugnahme auf die Begründung des Amtsgerichts – ausgeführt, eine Betreuung sei nicht anzuordnen, da eine Vollmacht vorliege. Der bevollmächtigte Bruder sei – anders als der Ersatzbevollmächtigte – ausreichend geeignet und auch bereit, die Vollmacht auszuüben. Ein neutraler Betreuer könne keinerlei Kontakt zum Betroffenen aufbauen, da dieser keinen Kontakt zulasse, sodass ein solcher nur weniger erreichen könnte als der Bruder. Letzterer habe deutlich gemacht, dass es für ihn „rote Linien“ gebe, bei welchen er entsprechend handeln würde.

9
Ebenso sei für den Aufgabenbereich der Vermögenssorge kein Betreuer zu bestellen. Zwar habe der Betroffene die Bevollmächtigung des Bruders gegenüber seiner Hausbank widerrufen, doch sei es zu einer Verschuldung nicht gekommen. Der Bruder des Betroffenen könne gegebenenfalls ein anderes Konto errichten, auf das etwaige zu erwartende Zahlungen fließen könnten. Es sei auch kein Einwilligungsvorbehalt anzuordnen, da eine erhebliche Gefahr für das Vermögen nicht vorliege.

10
b) Dies hält den Aufklärungsrügen der Rechtsbeschwerden nicht stand. Das Landgericht hat seiner Pflicht zur Amtsermittlung nach § 26 FamFG nicht hinreichend Rechnung getragen.

11
aa) In welchem Umfang Tatsachen zu ermitteln sind, bestimmt sich nach § 26 FamFG. Danach hat das Gericht von Amts wegen die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen und die geeignet erscheinenden Beweise zu erheben. Dabei muss dem erkennenden Gericht die Entscheidung darüber vorbehalten sein, welchen Weg es innerhalb der ihm vorgegebenen Verfahrensordnung für geeignet hält, um zu den für eine Entscheidung notwendigen Erkenntnissen zu gelangen. Dem Rechtsbeschwerdegericht obliegt lediglich die Kontrolle auf Rechtsfehler, insbesondere die Prüfung, ob die Tatsachengerichte alle maßgeblichen Gesichtspunkte in Betracht gezogen haben und die Würdigung auf einer ausreichenden Sachaufklärung beruht (Senatsbeschluss vom 14. Juli 2021 – XII ZB 135/21FamRZ 2021, 1738 Rn. 11 mwN).

12
(1) Zu den regelmäßig erforderlichen Maßnahmen der Sachverhaltsaufklärung gehört die persönliche Anhörung des Betroffenen.

13
Zwar ordnet § 278 FamFG eine verbindliche persönliche Anhörung nur vor der Bestellung eines Betreuers für den Betroffenen an. Damit ist aber nicht die Aussage verbunden, dass es einer Anhörung dann, wenn es nicht zu einer Betreuerbestellung kommt, generell nicht bedarf. Die persönliche Anhörung dient nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. § 34 Abs. 1 Nr. 1 FamFG), sondern hat – wie sich aus § 278 Abs. 1 Satz 2 FamFG ergibt – vor allem den Zweck, dem Gericht einen unmittelbaren Eindruck von dem Betroffenen zu verschaffen. Ihr kommt damit auch in den Fällen, in denen sie nicht durch das Gesetz vorgeschrieben ist, eine zentrale Stellung im Rahmen der gemäß § 26 FamFG in einem Betreuungsverfahren von Amts wegen durchzuführenden Ermittlungen zu. Wird die Einrichtung einer Betreuung ohne die erforderlichen Ermittlungen abgelehnt, so wird dem Betroffenen der ihm durch das Betreuungsrecht gewährleistete Erwachsenenschutz ohne ausreichende Grundlage vorenthalten (vgl. Senatsbeschlüsse vom 3. November 2021 – XII ZB 215/21FamRZ 2022, 379 Rn. 8 mwN und vom 13. Februar 2019 – XII ZB 485/18FamRZ 2019, 736 Rn. 11 mwN).

14
(2) Weiteres Mittel der Sachverhaltsaufklärung ist die ärztliche Untersuchung des Betroffenen.

15
§ 280 FamFG verpflichtet nach seinem Wortlaut das Gericht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens, wenn das Verfahren mit einer Betreuerbestellung oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts endet. Wird davon abgesehen, ist die Einholung eines Gutachtens nach § 280 Abs. 1 Satz 1 FamFG nicht zwingend erforderlich. Das Gericht hat daher vor der Anordnung der Gutachtenserstattung im jeweiligen Einzelfall zu prüfen, ob es das Verfahren im Hinblick auf eine Betreuerbestellung oder die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts weiter zu betreiben hat. Dies setzt hinreichende Anhaltspunkte voraus, dass Betreuungsbedarf besteht oder die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts in Betracht kommt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 14. Juli 2021 – XII ZB 135/21FamRZ 2021, 1738 Rn. 9 mwN und vom 13. Februar 2019 – XII ZB 485/18FamRZ 2019, 736 Rn. 12 mwN).

16
bb) Wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt, wird das landgerichtliche Verfahren den aus diesen Maßstäben erwachsenden Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung nicht gerecht. Das Landgericht hat auf unzureichender Tatsachengrundlage angenommen, dass keine hinreichenden Anhaltspunkte für einen Betreuungsbedarf nach § 1814 Abs. 3 BGB (bis 31. Dezember 2022: § 1896 Abs. 2 BGB) vorlägen.

17
(1) Gemäß § 1814 Abs. 3 Satz 1 BGB (bis 31. Dezember 2022: § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB) darf ein Betreuer nur bestellt werden, wenn dies erforderlich ist. An der Erforderlichkeit fehlt es, soweit die Angelegenheiten des Betroffenen durch einen Bevollmächtigten gleichermaßen besorgt werden können (§ 1814 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BGB; bis 31. Dezember 2022: § 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB). Eine Vorsorgevollmacht steht daher der Bestellung eines Betreuers grundsätzlich entgegen. Steht die – hier vom Landgericht nicht in Zweifel gezogene – Wirksamkeit der Vorsorgevollmacht fest, kann gleichwohl eine Betreuung erforderlich sein, wenn der Bevollmächtigte ungeeignet ist, die Angelegenheiten des Betroffenen nach dessen Wünschen zu besorgen, insbesondere, wenn zu befürchten ist, dass er die Angelegenheiten des Vollmachtgebers nicht entsprechend der Vereinbarung oder dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Vollmachtgebers besorgt. Ergeben sich aus der Vereinbarung und dem erklärten Willen des Vollmachtgebers keine konkreten Vorgaben, kann der Betroffene seine Wünsche nicht mehr äußern und ergeben sich auch keine individuellen Anhaltspunkte für seinen mutmaßlichen Willen, richtet sich dieser nach seinen objektiven Bedürfnissen. Den daraus abzuleitenden Handlungsmaximen kann der Bevollmächtigte nicht gerecht werden, wenn er mangels Befähigung oder wegen erheblicher Bedenken an seiner Redlichkeit als ungeeignet erscheint (Senatsbeschluss vom 29. März 2023 – XII ZB 515/22FamRZ 2023, 1150 Rn. 15 mwN).

18
Auch wenn die Redlichkeit des Bevollmächtigten außer Zweifel steht, setzt der Vorrang der Vorsorgevollmacht gegenüber der Anordnung einer Betreuung voraus, dass die Angelegenheiten des Volljährigen durch den Bevollmächtigten gleichermaßen besorgt werden können (§ 1814 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BGB). Daran fehlt es aber, wenn der Bevollmächtige Wünschen des Betroffenen nachgeht, denen der Betreuer nach § 1821 Abs. 3 Nr. 1 BGB nicht zu entsprechen hätte, weil hierdurch die Person des Betreuten oder dessen Vermögen erheblich gefährdet würde und der Betreute diese Gefahr aufgrund seiner Krankheit oder Behinderung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann. In einem derartigen Fall von selbstschädigenden Wünschen des Betroffenen gebietet es der Erwachsenenschutz nicht nur, dass ein Betreuer von den geäußerten Wünschen abweicht (vgl. BT-Drucks. 19/24445 S. 252), sondern er verlangt Gleiches auch von einem Bevollmächtigten. Denn nur so kann durch diesen einem bestehenden Betreuungsbedarf Genüge getan werden.

19
Damit im Einklang steht zum einen die Regelung des § 1820 Abs. 5 Satz 1 BGB, wonach ein Kontrollbetreuer die Vollmacht widerrufen darf, wenn das Festhalten an dieser eine künftige Verletzung der Person oder des Vermögens des Betreuten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit und in erheblicher Schwere befürchten lässt. Hierdurch zeigt sich der Wille des Gesetzgebers, den Eintritt einer solchen Gefahr auch beim Handeln des Bevollmächtigten nicht hinzunehmen. Dem entspricht zum anderen, dass im Falle der Bestellung eines Kontrollbetreuers jener an die Maßstäbe des § 1821 Abs. 3 Nr. 1 BGB gebunden wäre und dementsprechende Weisungen gegenüber dem Bevollmächtigten auszusprechen hätte, denen der Bevollmächtigte dann Folge zu leisten hätte.

20
Dass die Angelegenheiten des Betroffenen durch den Bevollmächtigten gleichermaßen besorgt werden können, setzt daher auch die Eignung des Bevollmächtigten dafür voraus, eine erhebliche Gefährdung für die Person des Betroffenen oder dessen Vermögen entgegen dessen geäußerten Wünschen abzuwenden (vgl. bereits Senatsbeschluss vom 7. August 2013 – XII ZB 671/12FamRZ 2013, 1724 Rn. 9), wenn der Betroffene die Gefahr aufgrund seiner Krankheit oder Behinderung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann. In einem solchen Fall muss der Bevollmächtigte wie ein Betreuer in der Lage sein, den mutmaßlichen Willen des Betroffenen zu ermitteln und ihm Geltung zu verschaffen (vgl. § 1821 Abs. 4 Satz 1 BGB).

21
(2) Den daraus folgenden Anforderungen an die Feststellung der Eignung des Bevollmächtigten wird das Verfahren nicht gerecht.

22
(a) Im Aufgabenbereich Gesundheitssorge bestehen, unabhängig von den nicht festgestellten Wünschen des Betroffenen, hinreichende Anhaltspunkte für eine Gefährdung höherrangiger Rechtsgüter des Betroffenen. Ebenso bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene diese Gefährdung aufgrund seiner Krankheit nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann. Zwar ist der Bruder des Betroffenen insoweit umfassend bevollmächtigt. Die Eltern des Betroffenen haben allerdings, nachdem sie kurze Einblicke in dessen Wohnung hatten, im Verfahren darauf hingewiesen, dass aufgrund einer Mangelernährung und unhaltbarer hygienischer Zustände in der Wohnung eine Gesundheitsgefährdung zu befürchten sei.

23
Nicht durch ausreichende Tatsachengrundlagen unterlegt ist auch die von den Instanzgerichten verneinte unzureichende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Denn eine ärztliche oder gutachterliche Untersuchung des Betroffenen fand nicht statt und auch einen persönlichen Eindruck vermochten sich weder das Amts- noch das Landgericht zu verschaffen. Der Bruder des Betroffenen konnte über den Zustand des Betroffenen ebenfalls keine belastbare Auskunft geben, da auch ihm oft nur ein Telefonat möglich sei und der Betroffene ihn regelmäßig nicht in die Wohnung lasse. Ebenso hat die Betreuungsbehörde angegeben, dass ein persönlicher Kontakt nicht habe hergestellt werden können. Des Weiteren hat der von der Betreuungsbehörde eingeschaltete Betreuungsverein mitgeteilt, der Betroffene habe im Gespräch mit einem Mitarbeiter einen verwirrten und hilfsbedürftigen Eindruck gemacht. Der Bruder des Betroffenen habe gegenüber dem Mitarbeiter erklärt, dass der Betroffene sich nur unzureichend versorgen könne und in der Wohnung verwahrlose.

24
Nach Maßgabe der rechtsbeschwerderechtlich zu unterstellenden Richtigkeit dieser Angaben rechtfertigt schließlich auch die Angabe des Bruders, es gebe „rote Linien“ für ihn, bei welchen er handeln würde, nicht die Einschätzung von Amts- und Landgericht, dass im Aufgabenbereich Gesundheitssorge kein Betreuungsbedarf bestehe. Denn weder ist festgestellt, was genau der Bruder unter „roten Linien“ versteht, noch wie er in Anbetracht seines nur sehr eingeschränkten Zugangs zum Betroffenen das Überschreiten solcher Linien und das Eintreten ernstlicher Gefährdungen verlässlich bemerken könnte.

25
Mangels tragfähiger Feststellungen zum Gesundheitszustand des Betroffenen war das Landgericht nicht in die Lage versetzt, die Eignung des Bruders als Bevollmächtigter rechtsfehlerfrei zu bewerten. Es war auf dieser Grundlage bereits nicht möglich festzustellen, ob und inwiefern – auch unter Berücksichtigung der Patientenverfügung – im Aufgabenbereich Gesundheitssorge Hilfen benötigt werden und ob Handlungsbedarf besteht.

26
(b) Entsprechendes gilt für die Aufgabenbereiche Wohnungsangelegenheiten und Aufenthaltsbestimmung. Insoweit mangelt es ebenfalls an einer ausreichenden Sachaufklärung, obwohl aus den genannten Gründen hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Betroffene nicht ohne erhebliche Gefährdung seiner Gesundheit allein wohnen kann.

27
(c) Ebenso bestehen im Aufgabenbereich Vermögenssorge, wiederum unabhängig von den nicht festgestellten Wünschen des Betroffenen, hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass sich die gesamte Lebens- und Versorgungssituation des Betroffenen erheblich verschlechtern könnte. Auch insoweit ist zwar der Bruder des Betroffenen umfassend bevollmächtigt worden. Allerdings hat der Betroffene die Vollmacht des Bruders gegenüber der Hausbank des Betroffenen, bei der er ein Guthabenkonto führt, widerrufen. Die Hausbank befolgt den Widerruf, sodass der Bruder keinen Zugriff mehr auf das Konto hat. Zwar kommt es hierdurch zu keiner Verschuldung des Betroffenen. Dieses für sich genommen und die Tatsache, dass der Bruder mithilfe seiner Vollmacht bei einer anderen Bank ein Konto eröffnen könnte, rechtfertigen jedoch nicht die Annahme des Landgerichts, dass es in diesem Aufgabenbereich keinen Betreuungsbedarf gibt. Denn zum einen steht zu befürchten, dass der Betroffene auch in anderen Bereichen, in denen der Bruder tätig wird, die Vollmacht widerruft, soweit er dies als unerwünschte Einmischung empfindet. Zum anderen kann eine Gefährdung nicht nur durch Überziehung des Bankkontos eintreten, sondern auch durch die von Bruder und Eltern mitgeteilten vielfachen Waren- oder Lebensmittelbestellungen des Betroffenen oder etwa – wie vorliegend bereits eingetreten und durch Bezahlung seitens der Eltern abgewendet – durch die Nichtbegleichung der Stromrechnungen. Einen Einblick, ob unbeglichene Verbindlichkeiten bestehen, hat auch der Bruder des Betroffenen nicht.

28
Hinzukommt, dass der Bruder des Betroffenen selbst angibt, dass jedenfalls in diesem Aufgabenbereich eine Betreuung sinnvoll wäre, da dann neben der Regelung der Bankgeschäfte ggf. auch Wohngeld oder andere Sozialleistungen für den Betroffenen beantragt werden könnten. Schließlich hat der Betreuungsverein angegeben, es stehe in Kürze die Auszahlung eines Pflichtteilsanspruches an, welcher gegebenenfalls verwaltet werden müsse. Unter diesen Umständen erscheint fraglich, ob die durch den Bruder in Ausübung der Vollmacht getroffenen Maßnahmen zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für das Vermögen des Betroffenen ausreichen.

29
(3) Aufgrund der danach bestehenden hinreichenden Anhaltspunkte für einen gegebenen Betreuungsbedarf sind weitere Ermittlungen wie insbesondere eine persönliche Anhörung des Betroffenen erforderlich. Dessen Weigerung, zur Durchführung des Anhörungstermins seine Wohnung zu öffnen, ist kein hinreichender Grund, von der persönlichen Anhörung abzusehen. Da der Betroffene nach dem Bekunden seines Bruders grundsätzliche Scheu hat, andere Personen in seine Wohnung einzulassen, hätte das Landgericht, um weitere Möglichkeiten einer Anhörung ohne Zwang auszuschöpfen, eine Anhörung im Gerichtsgebäude terminieren müssen.

30
Wäre der Betroffene auch zu dieser nicht erschienen, hätte das Landgericht eine Vorführung gemäß § 278 Abs. 5 FamFG in Betracht ziehen müssen (vgl. Senatsbeschluss vom 24. Januar 2018 – XII ZB 292/17FamRZ 2018, 628 Rn. 11 mwN). Liegen hinreichende Anhaltspunkte vor, die für eine Betreuungsbedürftigkeit des Betroffenen sprechen, kann das Betreuungsgericht nach dieser Vorschrift eine Vorführung anordnen. Das Landgericht hätte dazu die mögliche Vorführung des Betroffenen und deren zwangsweise Vollziehung ins Verhältnis zur Bedeutung des Verfahrensgegenstands setzen müssen. Da es um eine Betreuung geht, die weite Lebensbereiche des Betroffenen abdecken könnte, wäre die Annahme von Unverhältnismäßigkeit allenfalls dann in Betracht gekommen, wenn von der Vorführung und Durchsetzung gemäß § 278 Abs. 6 und 7 bzw. § 283 Abs. 2 und 3 FamFG sonstige negative Folgen erheblichen Ausmaßes für den Betroffenen zu erwarten gewesen wären. Zu denken wäre hierbei insbesondere an eine sachverständig festgestellte Gefahr, dass es durch die Vorführung zu erheblichen Nachteilen für die Gesundheit käme (vgl. Senatsbeschluss vom 6. Juli 2022 – XII ZB 551/21MDR 2022, 1433 Rn. 9 mwN). Derartiges ist hier aber nicht ersichtlich. Nicht ausreichend ist die in dem amtsgerichtlichen Nichtabhilfebeschluss getroffene Mutmaßung, wonach der Betroffene im Falle seiner Vorführung jeglichen Kontakt auch zu seinem Bruder abbräche.

31
Die Nichtdurchsetzung einer notwendigen Anhörung mit den Mitteln des § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG stellt einen Verstoß gegen § 26 FamFG dar (Senatsbeschluss vom 6. Juli 2022 – XII ZB 551/21MDR 2022, 1433 Rn. 9).

32
c) Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben. Er ist gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben und die Sache ist gemäß § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Landgericht zurückzuverweisen. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, da er die noch erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann.

33
Im Rahmen seiner erneuten Befassung wird das Landgericht auch die Bestellung eines Kontrollbetreuers in Betracht zu ziehen haben (§§ 1815 Abs. 3, 1820 Abs. 3 Nr. 2 BGB; bis 31. Dezember 2022: § 1896 Abs. 3 BGB). Denn sind behebbare Mängel bei der Vollmachtausübung festzustellen, erfordert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz grundsätzlich zunächst den Versuch, mittels eines zu bestellenden Kontrollbetreuers auf den Bevollmächtigten positiv einzuwirken, insbesondere durch Verlangen nach Auskunft und Rechenschaftslegung (§ 666 BGB) sowie Ausübung bestehender Weisungsrechte (vgl. Senatsbeschluss vom 29. März 2023 – XII ZB 515/22FamRZ 2023, 1150 Rn. 21 mwN).

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