BGH, Beschluss vom 04. November 2020 – XII ZB 220/20
1. Das Gericht darf sich bei seiner Entscheidung über die Bestellung eines Betreuers nicht allein auf eine Befragung des Betroffenen stützen, die nicht mit der Gewinnung eines unmittelbaren persönlichen Eindrucks im Sinne einer unmittelbaren visuellen und akustischen Wahrnehmung des Betroffenen einhergeht; eine lediglich fernmündlich geführte Unterhaltung mit dem Betroffenen genügt daher den Anforderungen an eine „persönliche Anhörung“ im Sinne von § 278 Abs. 1 FamFG nicht.(Rn.9)
2. Auch in den Zeiten der Corona-Pandemie kann in einem Betreuungsverfahren nur unter den engen Voraussetzungen des § 278 Abs. 4 i.V.m. § 34 Abs. 2 FamFG ausnahmsweise von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen nach Maßgabe von § 278 Abs. 1 FamFG abgesehen werden (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 – XII ZB 235/20, zur Veröffentlichung bestimmt).(Rn.11)
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 23. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld vom 14. April 2020 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.
Wert: 5.000 €
Gründe
I.
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Der Ehemann der Betroffenen (Beteiligter zu 1) hat durch seine Verfahrensbevollmächtigte die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung für die 1965 geborene Betroffene angeregt. Das Amtsgericht hat eine Verfahrenspflegerin für die Betroffene bestellt, ein schriftliches Sachverständigengutachten eingeholt und die Betroffene in deren Wohnung persönlich angehört. Durch Beschluss vom 5. Dezember 2019 hat es den Beteiligten zu 1 zum Betreuer für die Aufgabenbereiche „Behörden- und Sozialversicherungsangelegenheiten, Postangelegenheiten, Vermögensangelegenheiten“ und die Beteiligte zu 4 zur Berufsbetreuerin für die Aufgabenbereiche „Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitssorge“ bestellt.
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Gegen diese Entscheidung hat sich die Betroffene mit der Beschwerde gewendet. Das Landgericht hat das Verfahren auf die Einzelrichterin übertragen, die nach einem Telefongespräch mit der Betroffenen am 23. Januar 2020 eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen zu der Frage eingeholt hat, ob „die Betreuung für die Aufgabenkreise Gesundheitssorge/Aufenthaltsbestimmung aktuell erforderlich“ erscheint. Nach Übersendung des Ergänzungsgutachtens an die Verfahrensbeteiligten hat am 17. März 2020 ein weiteres, etwa zwanzigminütiges Telefongespräch zwischen der Einzelrichterin und der Betroffenen stattgefunden. Das Landgericht hat die Beschwerde sodann ohne weitere persönliche Anhörung der Betroffenen durch Beschluss vom 14. April 2020 zurückgewiesen.
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Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen, welche die Einrichtung einer Betreuung weiterhin ablehnt.
II.
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Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.
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1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass die Betroffene an einer organischen Persönlichkeitsstörung sowie einer bipolaren affektiven Störung leide. Aufgrund ihrer Erkrankung und den damit verbundenen Defiziten sei bei der Betroffenen die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufgehoben, und sie sei in dem angeordneten Aufgabenkreis nicht in der Lage, ihren Willen frei zu bestimmen. Der Betroffenen sei es nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht möglich, ihre Wahrnehmungen in einen situativ adäquaten Kontext einzuordnen, zumal sie sich ihrer chronifizierten psychiatrischen Erkrankungen nicht bewusst sei und sie ihre Umwelt – wie auch das vorliegende Betreuungsverfahren – paranoid verarbeite. Die überzeugenden ärztlichen Ausführungen seien durch die Stellungnahmen der Verfahrenspflegerin und der Betreuungsbehörde sowie den Eindruck des Amtsgerichts bei den persönlichen Anhörungen bestätigt worden. Auch die neunseitigen Ausführungen der Betroffenen in ihrer Beschwerdeschrift belegten indiziell ihre Erkrankung. Schließlich sei die Betroffene im Beschwerdeverfahren zweimal ausführlich telefonisch angehört und ihre Betreuungssituation erörtert worden, insbesondere in Bezug auf den Wunsch der Betroffenen nach Einholung des Ergänzungsgutachtens.
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2. Das hält den Verfahrensrügen der Rechtsbeschwerde nicht stand. Diese beanstandet zu Recht, dass das Beschwerdegericht die Betroffene unter Verstoß gegen §§ 278 Abs. 1 Satz 1, 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG vor seiner Entscheidung nicht persönlich angehört hat.
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a) Nach § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflichten aus § 278 Abs. 1 FamFG bestehen nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Zieht das Beschwerdegericht für seine Entscheidung mit einem ergänzenden Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert, so ist hingegen eine erneute Anhörung des Betroffenen geboten (vgl. Senatsbeschluss vom 4. Dezember 2019 – XII ZB 392/19 – NJW 2020, 852 Rn. 5 mwN). So liegt der Fall auch hier. Zwar ist das Ergänzungsgutachten ausdrücklich nur zur Frage der Erforderlichkeit der Betreuung in den Aufgabenbereichen Gesundheitssorge und Aufenthaltsbestimmung eingeholt worden. Der Sachverständige hat im Rahmen seines Ergänzungsgutachtens allerdings nochmals zur Grunderkrankung der Betroffenen und damit zu den medizinischen Voraussetzungen der Betreuung Stellung genommen und seine diesbezüglichen Ausführungen werden in der Beschwerdeentscheidung ersichtlich auch verwertet.
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b) Die vom Beschwerdegericht durchgeführte fernmündliche Anhörung der Betroffenen wird den sich aus § 278 Abs. 1 FamFG ergebenden verfahrensrechtlichen Pflichten des Gerichts nicht gerecht.
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aa) Konkrete Angaben, in welcher Form eine persönliche Anhörung nach § 278 Abs. 1 Satz 1 FamFG zu erfolgen hat, lassen sich der Vorschrift dabei nicht entnehmen. § 278 Abs. 1 Satz 2 FamFG verpflichtet das Gericht indessen ergänzend dazu, sich im Rahmen einer unmittelbaren Kontaktaufnahme (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 28. September 2016 – XII ZB 269/16 – FamRZ 2016, 2093 Rn. 13) einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen zu verschaffen. Auch wenn § 278 Abs. 1 Satz 2 FamFG in erster Linie diejenigen Fälle erfassen soll, in denen die Kommunikation mit einem Betroffenen unmöglich ist, wird aus der besonderen Hervorhebung unabhängig voneinander bestehender Pflichten jedenfalls deutlich, dass das Gericht sich bei seiner Entscheidung über die Bestellung eines Betreuers nicht allein auf eine Befragung des Betroffenen stützen darf, die nicht mit der Gewinnung eines unmittelbaren persönlichen Eindrucks im Sinne einer unmittelbaren visuellen und akustischen Wahrnehmung des Betroffenen einhergeht. Eine lediglich fernmündlich geführte Unterhaltung mit dem Betroffenen genügt daher den Anforderungen des § 278 Abs. 1 FamFG nach allgemeiner und zutreffender Ansicht nicht (vgl. MünchKommFamFG/Schmidt-Recla 3. Aufl. § 278 Rn. 12; Jurgeleit/Bučić Betreuungsrecht 4. Aufl. § 278 FamFG Rn. 6; Prütting/Helms/Fröschle FamFG 5. Aufl. § 278 Rn. 14; Schulte-Bunert/Weinreich/Rausch FamFG 6. Aufl. § 278 Rn. 5).
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bb) Eine andere Beurteilung ist auch nicht durch den vom Beschwerdegericht in einem Aktenvermerk niedergelegten Hinweis auf die Corona-Pandemie gerechtfertigt.
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(1) Wie der Senat zwischenzeitlich grundlegend entschieden hat (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 – XII ZB 235/20 – zur Veröffentlichung bestimmt), kann aus Gründen des Schutzes der Gesundheit des Betroffenen auch in Zeiten der Corona-Pandemie nur unter den engen Voraussetzungen des § 278 Abs. 4 i.V.m. § 34 Abs. 2 FamFG und damit lediglich ausnahmsweise von einer nach Maßgabe des § 278 Abs. 1 FamFG durchzuführenden persönlichen Anhörung abgesehen werden.
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Nach § 34 Abs. 2 FamFG kann die persönliche Anhörung des Betroffenen unterbleiben, wenn von ihr erhebliche Nachteile für seine Gesundheit zu besorgen sind, wovon sich das Gericht nur auf der Grundlage eines ärztlichen Gutachtens überzeugen kann (§ 278 Abs. 4 FamFG). Von derartigen Nachteilen ist nur dann auszugehen, wenn die persönliche Anhörung auch bei Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Vermeidung von gesundheitlichen Folgen für den Betroffenen zu schwerwiegenden und nicht abwendbaren Nachteilen führen würde. Die aus der Corona-Pandemie folgenden allgemeinen Infektions- und Erkrankungsrisiken führen indessen zu einer lediglich abstrakten Gesundheitsgefahr für den Betroffenen. Dieser wird regelmäßig durch Einhaltung der empfohlenen Hygienemaßnahmen – etwa durch Einhaltung des Abstandsgebots, Tragen von Schutzmasken und entsprechender räumlicher Gestaltung der Anhörungssituation – begegnet werden können. Nur wenn – was im Beschluss darzulegen ist – die Anhörung nicht unter Einhaltung der zu Gebote stehenden Hygienemaßnahmen durchgeführt und bei gesteigert dringlichem Regelungsbedürfnis auch keine einstweilige Anordnung vor Anhörung des Betroffenen ergehen kann, darf das Gericht unter den Voraussetzungen des § 278 Abs. 4 i.V.m. § 34 Abs. 2 FamFG von der persönlichen Anhörung absehen, wobei die durch die persönliche Anhörung drohenden Gesundheitsgefahren für den Betroffenen durch ein ärztliches Gutachten belegt sein müssen (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 – XII ZB 235/20 – zur Veröffentlichung bestimmt).
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(2) Auch der für die Gesundheit der anhörenden Richter und sonstiger an der Anhörung zu beteiligender Personen zu gewährleistende Infektionsschutz führt zu keinem abweichenden Ergebnis. Dabei kann es dahinstehen, ob eine analoge Anwendung des für Freiheitsentziehungssachen geltenden § 420 Abs. 2 FamFG in Betracht zu ziehen ist, wonach die persönliche Anhörung des Betroffenen unter anderem dann unterbleiben kann, wenn dieser an einer übertragbaren Krankheit im Sinne des Infektionsschutzgesetzes leidet. Diese Vorschrift ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs einschränkend dahin auszulegen, dass die ansteckende Krankheit des Betroffenen für sich genommen kein ausreichender Grund ist, von seiner persönlichen Anhörung abzusehen, wenn ausreichende Möglichkeiten zum Schutz der Gesundheit der anhörenden Richter bestehen und eine – die Anhörung ausschließende – Infektionsgefahr durch ein ärztliches Gutachten belegt ist (vgl. BGH Beschluss vom 22. Juni 2017 – V ZB 146/16 – NJW-RR 2017, 1090 Rn. 10 mwN). Mithin kommt danach ein Absehen von der persönlichen Anhörung ebenfalls nur unter den bereits mit Blick auf den Schutz des Betroffenen dargestellten Voraussetzungen in Betracht (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 – XII ZB 235/20 – zur Veröffentlichung bestimmt).
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(3) Nach diesen Maßgaben kann der bloße Hinweis auf die Corona-Pandemie weder das gänzliche Absehen von einer Anhörung des Betroffenen (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 – XII ZB 235/20 – zur Veröffentlichung bestimmt) noch eine Abweichung vom Grundsatz der unmittelbaren Kontaktaufnahme in einem persönlichen und mündlichen Gespräch rechtfertigen (vgl. BeckOK FamFG/Günter [Stand: 1. Oktober 2020] § 278 Rn. 13b).
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3. Die angefochtene Entscheidung kann daher keinen Bestand haben. Sie ist gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben und die Sache ist nach § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.