Zur Haftung des vermögenssorgenden Berufsbetreuers wegen pflichtwidrigen Umgangs mit Vergleichszahlungen und Schmerzensgeld

OLG Braunschweig, Urteil vom 14. November 2019 – 9 U 119/15

1. Eine Berufsbetreuerin mit dem Aufgabenkreis der Vermögenssorge macht sich gegenüber der Betreuten schadensersatzpflichtig, wenn sie bei der Beantragung von Sozialhilfeleistungen für die Betreute die aus einem vorangegangenen Verkehrsunfallprozess erhaltene Vergleichssumme vollständig für Behandlungs- und Pflegekosten der Betreuten ausgibt, den Erhalt der Vergleichssumme der Sozialbehörde im Leistungsantragsverfahren nicht mitteilt und, nachdem dieser Umstand dort anderweitig bekannt geworden ist, der Sozialbehörde keine Information darüber gibt, wie hinsichtlich materieller Schäden einerseits und des immateriellen Schadens andererseits, dessen Kompensierungsanteil sozialleistungsrechtlich berücksichtigungsfrei geblieben wäre, sich der Vergleichsbetrag zusammensetzt.

2. Versagt die Sozialbehörde sodann zu Recht wegen voller Berücksichtigung des Vergleichsbetrages die Leistung, so besteht der von der Betreuerin zu ersetzende Schaden in dem Wert des auf den Schmerzensgeldanspruch entfallenden Anteils, der durch den pauschalen Vergleichsbetrag mitabgegolten wurde und der sozialleistungsrechtlich berücksichtigungsfrei geblieben wäre; fehlen für diesen Anteil weitere Anhaltspunkte, ist er gem § 287 ZPO entsprechend dem prozentualen Anteil des im vorangegangenen Verkehrsunfallprozess, der mit dem Vergleich endete, geltend gemachten Schmerzensgeldanspruchs an dem Streitwert des Verkehrsunfallprozesses zu berechnen.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 21. Oktober 2015 – 1 O 3050/12 – teilweise abgeändert und

die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 238.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 9.3.2013 zu zahlen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Von den Kosten der ersten Instanz haben die Klägerin 33,5% und die Beklagte 66,5% zu tragen.

Von den Kosten des Berufungsrechtszuges haben die Klägerin 32,0 % und die Beklagte 68,0 % zu tragen.

Dieses Urteil und das vorbezeichnete Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 21. Oktober 2015 sind vorläufig vollstreckbar. Die Parteien dürfen die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor Vollstreckung eine Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages leistet.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 350.000,00 € festgesetzt.

Gründe
I.

1
Die Klägerin nimmt die Beklagte als ehemalige Betreuerin auf Schadensersatz wegen behaupteter zweckwidriger Verwendung einer Zahlung aus einem Vergleich vor dem Oberlandesgericht Celle vom 22.6.2009 in Höhe von 350.000,00 € in Anspruch.

2
Die Klägerin kam im November 2006 als Au-Pair nach Deutschland. Ihre Gasteltern in Wi. schlossen für sie u. a. eine private Krankenversicherung ab. Seit einem kurz darauf am 13.1.2007 erlittenen Verkehrsunfall liegt die Klägerin mit u. a. schwersten Hirnverletzungen im Koma. Sie wurde in verschiedenen Kliniken behandelt. Als ihre Betreuerin war vom 30.1.2007 bis zum 29.10.2011 die Beklagte gerichtlich bestellt. Die Beklagte erwirkte für die Klägerin im Prozess gegen den Unfallgegner und dessen Kraftfahrthaftpflichtversicherung erstinstanzlich eine Verurteilung zu Schmerzensgeld und – mit der üblichen Ausnahme der auf Sozialversicherungsträger übergegangenen Ansprüche – einen materiellen Feststellungsvorbehalt. Beide Ansprüche sprach das Landgericht Hildesheim aber nur auf Basis einer Haftungsquote von lediglich 20% zu. Dagegen ließ die die Beklagte für die Klägerin Berufung einlegen mit dem Ziel einer entsprechenden Verurteilung auf Basis eines gegnerischen Haftungsanteils von 80%. An der zweitinstanzlichen Mediationverhandlung vor dem Oberlandesgericht Celle (5 U 26/09) nahmen am 22.6.2009 die nunmehrige Beklagte als damalige Betreuerin und die damaligen Prozessbevollmächtigten der dortigen Parteien teil. Durch den dabei geschlossenen Vergleich wurde der Unfallhaftpflichtprozess endgültig beendet. Vereinbart wurde neben den bereits geleisteten 41.500,00 € eine Zahlung der dortigen Beklagten an die Klägerin vom 350.000,00 €.

3
Die entsprechend geleisteten Zahlungen verwendete die Beklagte vollständig für jeweils fällige Behandlungs- und Unterbringungskosten der Klägerin. Die Beklagte beantragte jeweils im Frühjahr 2007 und 2008 beim Landkreis Gifhorn als zuständigem Sozialleistungsträger die Übernahme der Behandlungskosten, zuletzt wegen des Auslaufens der Krankenversicherung. Der Landkreis lehnte das unter Hinweis auf angebliche Nachrangigkeit nach der erhaltenen Vergleichszahlung ab. Dagegen legte die Beklagte keinen Widerspruch ein.

4
Der jetzige Betreuer beantragte im Dezember 2012 die rückwirkende Übernahme von Behandlungskosten. Das wurde abgelehnt, sein Widerspruch ebenfalls. Dagegen erhob er gegen den Landkreis Klage, daneben auch gegen dessen Ablehnung einer Übernahme nicht gedeckter Behandlungskosten ab Ende 2010. Beide Verfahren liefen vor dem Sozialgericht Schwerin.

5
In dem hiesigen Rechtsstreit hat die Klägerin behauptet, die aus dem Vergleich vor dem Oberlandesgericht Celle erhaltene Zahlung beziehe sich zu 100% auf Schmerzensgeld. Dieses Schmerzensgeld habe die Beklagte betreuerpflichtwidrig vollständig für Behandlungskosten ausgegeben, obwohl diese durch Sozialleistungsansprüche gedeckt gewesen wären. Die Klägerin ist der Auffassung, die Beklagte habe versäumt, rechtzeitg Anträge beim Sozialleistungsträger zu stellen bzw. gegen deren Ablehnung Rechtsmittel einzulegen. Als Schmerzensgeld wäre der Vergleichsbetrag auch vollständig einer sozialleistungsmindernden Berücksichtigung entzogen gewesen. In Höhe des der Klägerin nunmehr entgangenen Vergleichsbetrages habe sich die Beklagte ihr gegenüber schadensersatzpflichtig gemacht.

6
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands I. Instanz wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils (S. 2 – 5 = Bl. 307 – 310 d.A.), für die gestellten Anträge wird auf die Protokolle der mündlichen Verhandlung vom 5.4.2013 (Bl. 109 d.A.), 11.7.2014 (Bl. 210 d.A.) und 14.8.2015 (Bl. 297 ff. d.A.) Bezug genommen.

7
In der Berufungsinstanz haben die Parteien den unstreitigen Sachvortrag wie folgt ergänzt:

8
Die Beklagte beantragte mit Schreiben vom 29.7.2009 beim Amtsgericht Gifhorn – Vormundschaftsgericht – die Erteilung einer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung zu dem am 22.6.2009 abgeschlossenen Vergleich (Anl. AG1). Mit Schreiben vom 4.8.2009 teilte die Rechtspflegerin des Vormundschaftsgerichts der Beklagten mit, dass keine Bedenken gegen den Vergleich bestünden (Anl. AG3). Die Beklagte unterrichtete weder den Unfallgegner noch dessen KFZ-Haftpflichtversicherung noch deren Prozessbevollmächtigten von dem Inhalt des vorgenannten Schreibens. Beide Prozessparteien des vor dem Oberlandesgericht Celle geführten Berufungsverfahrens ließen die Widerrufsfrist für den Vergleich verstreichen.

9
Die Klägerin ist seit dem 13.2.2014 – entgegen dem Tatbestand des angefochtenen Urteils – im Heim F. in Br. untergebracht.

10
Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 21.10.2015 abgewiesen. Zur Begründung führt es im Wesentlichen aus: Der Klägerin stehe gegen die Beklagte ein Anspruch auf Schadensersatz gemäß §§ 1833, 1908i Abs. 1 Satz 1, 276 BGB nicht zu. Die Beklagte habe als Betreuerin keine Pflicht aus dem Betreuungsverhältnis schuldhaft verletzt. Sie sei verpflichtet gewesen, die für die Behandlung der Klägerin entstandenen Kosten zu begleichen, weil der Antrag auf Kostenübernahme durch den Landkreis noch nicht beschieden gewesen sei.

11
Hinsichtlich weiterer Pflichtwidrigkeiten fehle es an einem kausalen Schaden. Zwar habe die Beklagte weder darauf hingewirkt, dass der im Vergleich beinhaltete Schmerzensgeldanteil klargestellt werde, noch habe sie gegen den ablehnenden Bescheid vom 7.4.2010 Widerspruch eingelegt. Jedoch habe die Klägerin den hierdurch verursachten Schaden nicht schlüssig dargetan.

12
Bei der Vergleichssumme handele es sich nicht um sozialhilferechtliches Schonvermögen gemäß § 90 SGB XII, weil die Klägerin nicht dargelegt habe, dass und ggf. welcher Anteil des Vergleichsbetrages auf das Schmerzensgeld entfalle. Gleichfalls habe die Klägerin keinen Beweis für ihre Behauptung angetreten, die Vergleichssumme stelle insgesamt nur Schmerzensgeld dar.

13
Einer Auslegung dahingehend, dass die Vergleichssumme anteilig Schmerzensgeldansprüche entsprechend ihrem Verhältnis zu den weiter geltend gemachten materiellen Ansprüchen enthalte, habe bereits der Vortrag der Klägerin entgegengestanden. Diese habe sich darauf berufen, dass der Vergleichsbetrag ausschließlich das Schmerzensgeld beinhalte. Auch habe sie nicht dargelegt, dass sich die Parteien bei Abschluss des Vergleichs darüber einig gewesen seien, dass aufgelaufene Behandlungskosten von dem Sozialversicherungsträger bereits übernommen worden seien oder zukünftig werden. Der in Ziff. 2 des Vergleichs enthaltene Ausschluss der Abgeltung für den gesetzlichen Forderungsübergang habe die im Feststellungsantrag enthaltenen materiellen Schadensersatzansprüche unberührt gelassen.

14
Ebenso sei dem Wortlaut des Vergleichs nicht zu entnehmen, ob bzw. in welchem Umfang es sich bei der Vergleichssumme um die Abgeltung des beantragten Schmerzensgeldes handele. Gegenstand des Berufungsverfahrens seien nicht nur immaterielle Ansprüche gewesen, sondern auch materieller Schadensersatz in Form von anteiligen Behandlungskosten sowie eines Freistellungsanspruchs.

15
Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (S. 6 – 10 = Bl. 311 – 315 d.A.) Bezug genommen.

16
Gegen dieses, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 27.10.2015 zugestellte Urteil, hat diese mit am 20.11.2015 eingegangen Schriftsatz einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Berufungsinstanz gestellt und dem Schriftsatz die beabsichtigte Berufungs- und Berufungsbegründungsschrift beigefügt. Nachdem der Klägerin mit dem am 12.5.2016 zugestellten Beschluss vom 2.5.2016 Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren gewährt worden ist, hat sie mit dem am 26.5.2016 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz Wiedereinsetzung in die Berufung- und Berufungsbegründungsfrist beantragt sowie Berufung eingelegt und diese begründet. Mit Beschluss vom 30.5.2016 ist der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist gewährt worden.

17
Die Klägerin rügt die Verletzung materiellen und formellen Rechts.

18
Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus: Das Landgericht habe fehlerhaft, die Begleichung offener Behandlungskosten als für sie interessengerecht eingeordnet. Die Beklagte habe zudem pflichtwidrig keinen Widerspruch gegen den Bescheid des Landkreises Gifhorn vom 7.4.2010 eingelegt sowie dem nachfolgend die Erhebung der Anfechtungsklage nicht genutzt. Von der juristisch vorgebildeten Beklagten habe eine hinreichende Überprüfung der Rechtsauffassung des Landkreises ebenso wie eine detaillierte Aufschlüsselung der einzelnen Positionen im Vergleich erwartet werden dürfen.

19
Daneben rügt die Klägerin, dass sie erstinstanzlich hinreichend dargelegt und Beweis dafür angetreten habe, dass es sich bei der Vergleichssumme allein um Schmerzensgeld handele. Für das Beweisangebot verweist sie auf Seite 5 des Schriftsatzes vom 1.7.2015.

20
Das Landgericht habe verkannt, dass Gegenstand des Mediationsverfahrens vor dem Oberlandesgericht Celle – neben der Schmerzensgeldforderung – lediglich die Klinikrechnungen bis einschließlich zum 27.10.2008 gewesen seien. Diese seien bei Abschluss des Vergleiches bereits vollständig beglichen gewesen. Erstinstanzlich habe sie – die Klägerin – dazu vorgetragen, dass für den Zeitraum vom 16.11.2007 bis einschließlich 27.10.2008 insgesamt 140.328,74 € auf die in Rechnung gestellten Behandlungskosten aus ihren eigenen Mitteln beglichen worden seien. Der damit verbundene Zahlbetrag sei unter Abzug der geleisteten Vorschüsse als Antrag zu 2) durch die Beklagte im Verfahren vor dem Landgericht Hildesheim geltend gemacht worden. Insoweit verweist die Klägerin auf die Berechnung im Schriftsatz vom 1.7.2015. Der Zahlungsantrag zu 2) habe sich in der Berufung vor dem Oberlandesgericht Celle nur verringert, weil die Klägerin – unter Anerkennung eines Mitverursachungsbeitrags – lediglich 80 % des materiellen Schadens weiterverfolgt habe. Durch die Zahlungen der KFZ-Haftpflichtversicherung des Unfallgegners sowie der privaten Kranken- bzw. Unfallversicherung der Klägerin seien Behandlungskosten bis zuletzt am 12.12.2008 ausgeglichen worden. Entgegenstehendes habe die Beklagte zu belegen, was sie nicht getan habe. Ein einfaches Bestreiten genüge hierfür nicht. Auch sei die Beklagte beweisfällig geblieben, auf welche einzelnen Rechnungen sich die Vereinbarung des Vergleichsbetrages habe erstrecken sollen.

21
Ferner habe das Landgericht eine Beweislastumkehr zu Lasten der Beklagten nicht hinreichend gewürdigt. Die Beklagte habe darzulegen, wie sie die Zahlung des Vergleichsbetrages verbucht und in welcher Höhe sie die erhaltenen Gelder zweckbestimmt verwendet habe.

22
Die Klägerin rügt weiter, das Landgericht habe nicht beachtet, dass bei einer rückwirkenden Zahlungsverpflichtung des Landkreises die Zahlungen auf ihren aktuellen Anspruch anzurechnen wären.

23
Für ihre grundsätzliche Berechtigung, ab dem 15.2.2008 Sozialleistungen beziehen zu können, verweist die Klägerin auf die Urteile des Sozialgerichts Schwerin vom 30.4.2019 in den Verfahren S 4 SO 24/13 und S 4 SO 15/19. Das Sozialgericht Schwerin habe – insofern unstreitig – im Verfahren S 4 SO 24/13 den Landkreis Gifhorn mit Beginn des 30.12.2010 rechtskräftig zur Leistung nach dem SGB XII bzw. AsylbLG verpflichtet.

24
Hingegen sei dem gegenwärtigen Betreuer ein erfolgreiches Vorgehen nach § 44 SGB X für den Zeitraum vom 15.2.2008 bis zum 29.12.2010 nicht mehr möglich gewesen. Dieser habe – insofern unstreitig – erst durch Akteneinsicht beim Landkreis Gifhorn am 31.7.2012 Kenntnis vom maßgeblichen Bescheid erlangt. Die sodann erhobene Klage vor dem Sozialgericht Schwerin (S 4 SO 15/19 (vormals S 4 SO 70/13)) mit dem Ziel der Aufhebung des Bescheids und der Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII bzw. AsylbLG für den Zeitraum vom 15.2.2008 bis einschließlich 29.12.2010 sei – insofern wiederum unstreitig – abgewiesen worden, weil ein Anspruch gemäß §§ 44 SGB X, 116a SGB XII in zeitlicher Hinsicht ausgeschlossen gewesen sei.

25
Für den gegenwärtigen Betreuer habe auch keine Möglichkeit bestanden, zugunsten der Klägerin einen Krankenversicherungsschutz zur Übernahme der Behandlungskosten für den Zeitraum vom 15.2.2008 bis zum 29.12.2010 sicherzustellen. Die hierfür nötige Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung habe – insofern unstreitig – die D.-Krankenkasse mit bestandskräftigem Bescheid vom 2.7.2009 abgelehnt. Die nachfolgenden, an die AOK-X. gerichteten Anträge des gegenwärtigen Betreuers seien bis zum 28.6.2013 ohne Erfolg geblieben, weil gemäß § 173 Abs. 1 SGB V die erstmals gewählte Krankenkasse – hier die D.-Krankenkasse – die Pflichtmitgliedschaft hätte erfüllen müssen.

26
Die Klägerin beantragt,

27
das Urteil das Landgerichts Braunschweig vom 21.10.2015 – 1 O 3050/12 – abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 350.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

28
Die Beklagte beantragt,

29
die Berufung zurückzuweisen.

30
Sie verteidigt das angefochtene Urteil und führt ergänzend aus, dass mit Ziff. 2 des Vergleichs auch nicht rechtshängige Ansprüche abgegolten werden sollten. Soweit die Klägerin die Vernehmung der Prozessbevollmächtigten des vor dem Oberlandesgericht Celle geführten Mediationsverfahrens begehre, handele es sich um einen Ausforschungsbeweis.

31
Wegen der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens der Parteien wird auf die Berufungsbegründung der Klägerin vom 24.5.2016 (Bl. 401 ff. d.A.) und ihre Schriftsätze vom 3.2.2016 (Bl. 342 f. d.A.), 18.3.2016 (Bl. 347 d.A.), 11.4.2016 (Bl. 375 f. d.A.), 17.7.2019 (Bl. 468 ff. d.A.) und 2.10.2019 (Bl. 563 ff. d.A.) sowie auf die Schriftsätze der Beklagten vom 11.1.2016 (Bl. 338 ff. d.A.), 17.3.2016 (Bl. 349 f. d.A.), 20.4.2016 (Bl. 380 f. d.A.) und 16.9.2019 (Bl. 543 ff. d.A.) Bezug genommen.

32
Der Senat hat mit Verfügungen vom 19.2.2016 (Bl. 344 d.A.), 21.3.2016 (Bl. 356 d.A.) und 24.9.2019 (Bl. 552 d.A.) den Parteien gemäß § 139 ZPO rechtliche Hinweise erteilt. Von Mai 2016 bis Ende August 2019 war das vorliegende Berufungsverfahren im Hinblick auf die für einen etwaigen Schaden vorgreiflichen Klageverfahren vor dem Sozialgericht Schwerin ausgesetzt.

33
Das Sozialgericht Schwerin hat sodann Beweis erhoben gemäß der prozessleitenden Verfügung vom 5.9.2019 (Bl. 529 d.A.) durch Vernehmung der Zeugen F. und Prof. Dr. N.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der Berufungsverhandlung vom 24.10.2019 (Bl. 576 bis 584 d.A.) Bezug genommen.

II.

34
Die zulässige Berufung der Klägerin hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen war sie zurückzuweisen.

35
1. Die Berufung ist zulässig. Die Klägerin hat fristgemäß nach der Zustellung des Beschlusses zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe am 12.5.2016 mit dem am 26.5.2016 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die versäumte Prozesshandlung in Form der Berufung- und Berufungsbegründungsschrift nachgeholt (§§ 233, 236 Abs. 2 ZPO). Dementsprechend ist ihr mit Beschluss vom 30.5.2016 Wiedereinsetzung in die Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist gewährt worden.

36
2. Zwar entspricht der im Tatbestand des angefochtenen Urteils wiedergegebene Antrag – Hilfsantrag als Hauptantrag – nicht vollständig dem in den mündlichen Verhandlungen vom 5.4.2013, 11.7.2014 und 14.8.2015 gestellten Haupt- und Hilfsantrag. Von dem daraus resultierenden, fristgebundenen Recht zur Tatbestandsberichtigung und Urteilsergänzung hat die Klägerin jedoch keinen Gebrauch gemacht mit der Folge, dass die Rechtshängigkeit des übergangenen prozessualen Anspruchs nach Ablauf der Frist des § 321 Abs. 2 ZPO erloschen ist (vgl. BGH, Urteil vom 29.11.1990 – I ZR 45/89 -, juris-Rn. 14; Urteil vom 8.11.1965 – VIII ZR 300/63 -, juris-Rn. 46; Zöller/Heßler, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 528 Rn. 12). Die erneute Stellung des Hauptantrages als Berufungsantrag stellt damit eine zulässige Klageerweiterung dar (vgl., bezogen auf das Revisionsrecht, BGH, Urteil vom 29.11.1990 – I ZR 45/89 -, juris-Rn. 16).

37
3. Die Klägerin kann von der Beklagten Schadensersatz in Höhe von 238.000,00 € wegen schuldhafter Pflichtverletzungen im Betreuungsverhältnis gemäß §§ 1908i Abs. 1 Satz 1, 1833 Abs. 1 Satz 1 BGB beanspruchen.

38
Die Beklagte hat schuldhaft (hierzu unter b) ihre Pflicht aus dem Betreuungsverhältnis verletzt, indem sie als ehemalige Betreuerin weder im Verfahren des im Namen der Klägerin gestellten Antrages auf Sozialleistungen vom 15.2.2008 die erforderlichen Angaben zum gezahlten Schmerzensgeld gemacht hat, noch gegen den Ablehnungsbescheid des Landkreises Gifhorn vom 7.4.2010 ein Rechtsmittel eingelegt bzw. nach Ablauf der Rechtsmittelfrist einen Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X gestellt hat (hierzu unter a). Hieraus ist der Klägerin ein Schaden in Höhe von 238.000,00 € (hierzu unter c) erwachsen.

39
a) Versäumnisse eines Betreuers in Bezug auf die Geltendmachung sozialrechtlicher Ansprüche des Betroffenen begründen grundsätzlich eine Pflichtverletzung gem. §§ 1908i Abs. 1 Satz 1, 1833 Abs. 1 BGB. Der Betreuer ist innerhalb des ihm übertragenen Aufgabenkreises zu allen Tätigkeiten verpflichtet, die dem Wohl des Betreuten dienen (§ 1901 Abs. 2 BGB). Die Beklagte ist daher im Rahmen des ihr übertragenen Wirkungskreises der „Vermögenssorge“ verpflichtet gewesen, für einen zu deckenden Bedarf ihrer Betreuten, der durch eigene Einkünfte oder eigenes Vermögen nicht erfüllt werden konnte, Sozialhilfe oder sonstige staatliche Leistungen zu beantragen. Hierbei umfasst der Aufgabenkreis der Vermögenssorge auch die Geltendmachung künftiger vermögensrechtlicher Ansprüche (Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 30.8.2002 – 1 U 176/01 -, juris-Rn. 22; OLG Schleswig, Urteil vom 30.8.2002 – 1 U 176/01 -, juris-Rn. 22; MüKoBGB/Kroll-Ludwigs, BGB, 7. Aufl. 2017, § 1833 Nr. 6 Fn. 24, beck-online; Jürgens/v. Crailsheim, Betreuungsrecht, 6. Aufl. 2019, § 1833 BGB Rn. 5, beck-online; Schulte-Bunert in Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, § 1833 Rn. 5; Lafontaine in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 1833 Rn. 18; abl. Anm. Bienwald, FamRZ 1998, 1567, juris abstract zu LG Köln, Urteil vom 14.5.1997 – 13 S 17/97 -, juris-Rn. 5 f.).

40
Die Geltendmachung dieser Ansprüche beschränkt sich aber nicht auf die Beantragung von Sozialhilfe oder sonstigen staatlichen Leistungen, sondern erfordert bei einem Rechtsanwalt als Betreuer auch grundsätzlich die sorgfältige und gewissenhafte Prüfung eines Rechtsmittels oder Klageverfahrens (vgl. MüKoBGB/Kroll-Ludwigs, BGB, 7. Aufl. 2017, § 1833 Nr. 6, beck-online) gegen einen ablehnenden Sozialhilfebescheid (vgl. OLG Schleswig, Urteil vom 6.12.1996 – 1 U 91/96 – NJWE-FER 1997, 105, mit Auszug aus den Gründen beck-online; MüKoBGB/Kroll-Ludwigs, BGB, 7. Aufl. 2017, § 1833 Nr. 6 Fn. 24, beck-online).

41
Ebenso verpflichtet der Aufgabenkreis der Vermögenssorge den Betreuer, Vermögenszuwächse und deren Herkunft/Zusammensetzung dem Sozialamt mitzuteilen (vgl. AG Kirchhain, Urteil vom 29.12.2004 – 7 C 277/04 -, juris-Rn 16, dort entsprechend für Übergangsgeld).

42
Unter Berücksichtigung der vorstehend dargelegten Grundsätze ist die Beklagte bereits im Verfahren ihres Antrages vom 15.2.2008 als Betreuerin der Klägerin mit dem Aufgabenkreis der Vermögenssorge verpflichtet gewesen, nach Aufforderung des Landkreises Gifhorn Angaben zu den vom Unfallgegner erlangten Beträgen Angaben zu machen und dementsprechend die Mitwirkungspflichten der Klägerin gem. §§ 60 ff. SGB I zu erfüllen. Dem ist die Beklagte nicht nachgekommen (vgl. Ablehnungsbescheid des Landkreises bzgl. des Leistungsantrags vom 15.2.2008 auf Sozialhilfeleistungen vom 7.4.2010, Anl. K 5 zur Klageschrift vom 5.2.2013, Anlagenband Klägerin). Sie hat dem Landkreis unter anderem weder den Erhalt des Vergleichsbetrages in Höhe von 350.000,00 € mitgeteilt, noch hat sie den hierin enthaltenen Schmerzensgeldanteil (hierzu unter bb) ausgewiesen, obwohl sie selbst von der Wirksamkeit des Vergleichs ausgegangen ist.

43
Ferner hatte die Beklagte als Betreuerin unter Berücksichtigung ihres seinerzeitigen Berufs als Rechtsanwältin die Pflicht, die Begründung des Ablehnungsbescheids des Landkreises Gifhorn und die Erfolgsaussicht eines Rechtsbehelfs zu prüfen. Vor dem Hintergrund, dass in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Zeitpunkt des Erlasses des ablehnenden Bescheides bereits entschieden worden war, dass Schmerzensgeld sowohl im Anwendungsbereich des SGB XII als auch des AsylbLG als Schonvermögen anzusehen ist (hierzu unter aa), traf die Beklagte die Pflicht, gegen den Ablehnungsbescheid Widerspruch einzulegen und bei Versäumen der Widerspruchsfrist zumindest einen Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X zu stellen.

44
aa) Wie die Klägerin mit der Berufung zutreffend ausführt, wird im Sozialhilferecht aus Schmerzensgeldzahlungen stammendes Vermögen in der Regel gemäß § 90 SGB XII nicht auf die Sozialhilfe angerechnet, weil sein Einsatz zur Deckung sozialhilferechtlichen Bedarfs angesichts der Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes eine Härte bedeutet, wobei auch angespartes (jedoch nicht ererbtes) Schmerzensgeld geschützt ist (BVerwG, Beschluss vom 19.5.2005 – 5 B 106/04 -, juris-Rn. 3; BSG, Urteil vom 15.4.2008 – B 14/7b AS 6/07 R, juris-Rn. 17-19; vgl. zu §§ 77 Abs. 2, 88 BSHG: BVerwG, Urteil vom 18.5.1995 – 5 C 22/93 -, juris-Rn. 11-16; vgl. zu sozialen Ausgleichsleistungen nach den §§ 16 ff. StrRehaG: BGH, Beschluss vom 26.11.2014 – XII ZB 542/13 -, juris-Rn. 17; Mecke in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, Rn. 101). Das Schmerzensgeld ist in seiner ganzen noch vorhandenen Höhe geschützt und nicht nur mit einem bestimmten festen oder prozentualen Anteil. Die Höhe des Schmerzensgeldes hängt allein von der Schwere der Schädigung und dem Gewicht des erlittenen Unrechts ab. Deshalb ist es nicht gerechtfertigt, die freie Verfügbarkeit des zu deren Ausgleich und Genugtuung erhaltenen Schmerzensgeldes in Teilen einzuschränken (BVerwG, Urteil vom 18.5.1995 – 5 C 22/93 -, juris-Rn. 11-16).

45
Etwas anderes gilt auch nicht für die Zeiträume, in denen die Klägerin Leistungen nach dem AsylbLG beanspruchen konnte. Schmerzensgeld darf gemäß § 7 Abs. 5 AsylbLG (in der Fassung vom 28.8.2007 bis 28.2.2015, aktuell: § 7 Abs. 2 Nr. 4 AsylbLG) nicht als Einkommen, also nicht anspruchsmindernd, berücksichtigt werden. Diese Regelung ist durch Gesetz vom 19.8.2007 eingeführt worden, nachdem das BVerfG (Beschluss vom 11.7.2006 – 1 BvR 293/05 -, BVerfGE 116, 229-242, juris) die Anrechnung des Schmerzensgeldes bei der Bewilligung von Leistungen nach dem AsylbLG für verfassungswidrig erklärt hatte. Das Schmerzensgeld muss über die Regelung des § 7 Abs. 5 AsylbLG bzw. die Entscheidung des BVerfG hinaus nicht nur als Einkommen, sondern auch als Vermögen von der Berücksichtigung bzw. Anrechnung ausgenommen werden. Es wird als Genugtuung und als Ausgleich für immaterielle Nachteile, nicht wegen materieller Schäden bzw. als Ausgleich für Erwerbsschäden, dass heißt auch nicht für den Lebensunterhalt geleistet. Aus diesem Grund wird es in den anderen Grundsicherungen als Härte angesehen, Vermögen in Form von Schmerzensgeld für den Lebensunterhalt aufbrauchen zu müssen. Daher ist das Schmerzensgeld – der Argumentation des BVerfG folgend – auch ohne das in § 7 AsylbLG fehlende Vehikel einer Härtefallklausel im AsylbLG aufgrund seiner besonderen Funktion berücksichtigungsfrei (Schmidt in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 7 AsylbLG i.d.F. v. 19.8.2007, Rn. 42; vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.7.2006 – 1 BvR 293/05 -, BVerfGE 116, 229 – 242, juris).

46
bb) Mit der aufgrund des wirksamen Vergleichs vom 22.6.2009 (hierzu unter cc) gezahlten Summe haben – zumindest anteilig auch – Schmerzensgeldansprüche der Klägerin abgegolten werden sollen.

47
Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, den im Vergleich vom 22.6.2009 enthaltenen Zahlungsbetrag von 350.000,00 € als Schmerzensgeld anzusehen. Die Rechtsansicht der Beklagten, dieser Betrag habe deshalb kein Schmerzensgeld darstellen können, weil sich die Klägerin seit ihrem Unfall im Wachkoma befinde und ihr Schmerzempfinden praktisch aufgehoben sei, überzeugt nicht. Der Umstand, dass eine Person im Wachkoma liegt, hindert nicht die Zusprechung eines Schmerzensgeldes. Dass in solch einem Fall das Schmerzensgeld seine Genugtuungs- und Wiedergutmachungsfunktion nicht erfüllen könne, ist nicht ersichtlich (vgl. OLG Oldenburg, Urteil vom 8.7.2015 – 5 U 28/15, OS u. Rn. 56; OLG Köln, Urteil vom 6.6.2012 – 5 U 28/10, OS u. Rn. 22; OLG München, Urteil vom 15.12.2011 – 1 U 1913/10, OS u. Rn. 39; jeweils juris). Vor allem aber gilt der Grundsatz, dass auch dann, wenn – wie hier – schwerste Schädigungen zu einem Erlöschen der geistigen Fähigkeiten und weitgehendem Verlust der Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit führen, diese Zerstörung der Persönlichkeit des Opfers ein angemessen zu entschädigender immaterieller Schaden ist (Oberlandesgericht Stuttgart VersR 2009, 80; KG NJW-RR 2012, 920; BGH NJW 1993, 781, unter Aufgabe der früheren Rechtsprechung einer bloß symbolischen Entschädigung NJW 1982, 2123).

48
Unstreitig sind im Rechtsstreit vor dem Landgericht Hildesheim (3 O 137/07) und dem anschließenden Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Celle (5 U 26/09) neben den von der Klägerin bereits beglichenen Behandlungskosten auch Schmerzensgeldansprüche der Klägerin streitgegenständlich gewesen. Der Antrag der Berufungsbegründung vom 17.4.2009 (Anl. K 11 zur Klageschrift vom 5.3.2013, Anlagenband Klägerin) war auf 370.000,00 € Schmerzensgeld und eine Schmerzensgeldrente in Höhe von mindestens 400,00 € monatlich gerichtet. Daneben ist ein materieller Schadensersatz für Behandlungskosten in Höhe von 86.672,84 € für den Zeitraum vom 16.11.2007 bis 27.10.2008 (vgl. Seite 15 der Berufungsbegründung vom 17.4.2009, Anl. K 11 zur Klageschrift vom 5.3.2013; Seite 10 des Schriftsatzes im Verfahren 3 O 137/07 vor dem Landgericht Hildesheim vom 7.11.2008, Anl. K 34 zum klägerischen Schriftsatz vom 6.8.2015, Anlagenband Klägerin) sowie die Feststellung der Haftung der dortigen Beklagten für künftige materielle Schäden beantragt worden. Mit dem Vergleich sollten zudem sämtliche Ansprüche der Klägerin aus dem Unfallereignis vom 13.1.2007 abgegolten werden, ausgenommen Ansprüche, die auf Sozialversicherungsträger oder auf den privaten Krankenversicherer übergegangen sind oder übergehen werden (Ziff. 2 des Vergleichs, Anl. K 12 zur Klageschrift vom 5.3.2013, Anlagenband Klägerin). Ferner geht aus dem Schreiben der KFZ-Haftpflichtversicherung des Unfallgegners, der R+V Versicherung, vom 24.9.2015 (Anl. K 35 zum klägerischen Schriftsatz vom 5.10.2015, Anlagenband Klägerin) hervor, dass mit dem Vergleich auch Schmerzensgeldansprüche der Klägerin abgegolten werden sollten.

49
Die Frage, zu welchem Anteil die Vergleichssumme in Höhe von 350.000,00 € als Schmerzensgeld gezahlt worden ist, betrifft die Schadenshöhe (hierzu unter c).

50
cc) Der am 22.6.2009 im Berufungsverfahren 5 U 26/09 (3735 AR 68/09) vor dem OLG Celle im Rahmen einer Mediation geschlossene Vergleich ist auch wirksam.

51
Gemäß §§ 1908i Abs. 1 Satz 1, 1822 Nr. 12 BGB (in der im Zeitpunkt des Vergleichsschlusses geltenden Fassung vom 1.1.2002) bedarf der Betreuer zu einem Vergleich der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts (ab 1.9.2009 Betreuungsgericht), es sei denn der Gegenstand des Streits übersteigt den Wert von 3.000,00 € nicht oder der Vergleich entspricht einem schriftlichen oder protokollierten gerichtlichen Vergleichsvorschlag. Dies gilt auch für einen Prozessvergleich (MüKoBGB/Kroll-Ludwigs, BGB, 7. Aufl. 2017, § 1822 Rn. 69, beck-online). Hinweise darauf, dass der Vergleich einem gerichtlichen Vergleichsvorschlag – schriftlich oder mündlich und protokolliert – entspricht, lassen sich weder dem Protokoll der nichtöffentlichen Sitzung vom 22.6.2009 noch dem Vortrag der Parteien entnehmen.

52
Demnach war der vor dem OLG Celle geschlossene Vergleich schwebend unwirksam, bis die nachträgliche gerichtliche Genehmigung gemäß §§ 1829 Abs. 1 Satz 2, 1908i Abs. 1 Satz 1 BGB (in der im Zeitpunkt des Vergleichsschlusses geltenden Fassung vom 1.1.2002) dem anderen Teil, also den Beklagten im Verfahren vor dem Oberlandesgericht Celle, von der Betreuerin mitgeteilt wurde. Eine solche Genehmigung liegt in dem Schreiben des Amtsgerichts Gifhorn vom 4.8.2009, in dem die Rechtspflegerin des Amtsgerichts – Betreuungsgericht – Gifhorn verfügt hat, dass gegen den Vergleich keine Bedenken bestehen (Anl. AG 3 zum Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Beklagten vom 17.3.2016 = Bl. 355 d.A.). Die Erteilung der Genehmigung durch die zuständige Rechtspflegerin (§§ 3 Nr. 2 lit.a), 15 RpflG in der Fassung vom 19.2.2007, gültig ab 1.1.2009 bis 31.8.2009) ist gemäß des damals gültigen § 16 Abs. 2 Satz 2 FGG formfrei möglich.

53
§ 1829 Abs. 1 Satz 2 BGB hat zwingenden Charakter. Im Interesse des Betreuten muss der Betreuer, wenn die Genehmigung des Vormundschafts- bzw. Betreuungsgerichts erteilt und ihm gegenüber wirksam geworden ist, in der Lage sein, nochmals zu prüfen, ob er am Vertrag festhalten oder durch Unterlassen der Mitteilung an den Vertragsgegner das Zustandekommen des Vertrags verhindern will. Deswegen ist die Mitteilung der nachträglichen Genehmigung des Betreuungsgerichts eine empfangsbedürftige Willenserklärung. Der Betreuer muss dem anderen Teil des Vergleichsvertrages zumindest konkludent zu erkennen gegeben haben, dass er den Vertrag so, wie er geschlossen und gerichtlich genehmigt worden ist, auch weiterhin billigt (Jürgen, Betreuungsrecht, BGB, 6. Aufl. 2019, § 1829 Rn. 2, beck-online; Palandt/Götz, BGB, 78. Aufl. 2019, § 1829 Rn. 4). Die Mitteilung gegenüber dem anderen Teil muss zum Ausdruck bringen, dass der Betreuer nunmehr, nachdem Genehmigung erteilt ist, das Geschäft als wirksam gelten lassen will. Sie muss also auf die Tatsache der erteilten Genehmigung Bezug nehmen, indem der Betreuer den Vertragspartner darüber informiert oder sich sonst erkennbar darauf bezieht, etwa wenn der andere Teil schon Kenntnis davon erlangt hat. Die Mitteilung ist formfrei und kann auch durch schlüssiges Verhalten erfolgen.

54
Vorliegend hat die Beklagte die vormundschaftsgerichtliche Genehmigung den Beklagten des Berufungsverfahrens vor dem Oberlandesgericht Celle nicht ausdrücklich zur Kenntnis gebracht, sondern die Widerrufsfrist ungenutzt verstreichen lassen. Es ist aber anzunehmen, dass die Beklagten des vorgenannten Berufungsverfahrens durch schlüssiges Verhalten ihres Prozessbevollmächtigten gem. § 151 Satz 1 BGB auf die Mitteilung der Genehmigung gemäß § 1829 BGB verzichtet haben, indem die Klägerin des Berufungsverfahrens von der Möglichkeit des Widerrufs des Vergleichs keinen Gebrauch gemacht hat.

55
In diesem Zusammenhang ist zwar umstritten, ob der Vertragsgegner entsprechend § 151 Satz 1 BGB auf die Mitteilung oder den Zugang verzichten kann. Nach einer Auffassung soll eine Vereinbarung, die Genehmigung solle als mitgeteilt gelten, wenn der Vertragsgegner innerhalb einer bestimmten Frist keine gegenteilige Nachricht erhalte, unwirksam sein (vgl. Staudinger/Veit (2014), BGB, § 1829 Rn. 29, juris). Jedoch ist nach anderer allgemeiner Auffassung – der auch der Senat folgt – eine Vereinbarung möglich, die es dem Betreuer freistellt, seinen Betätigungswillen in anderer Weise als durch Mitteilung an den Vertragspartner auszudrücken (etwa gemäß § 151 Satz 1 BGB), solange nur seine Entscheidungsfreiheit gewahrt bleibt (MüKoBGB/Kroll-Ludwigs, BGB, 7. Aufl. 2017, § 1829 Rn. 13, beck-online; Lafontaine in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 1829 Rn. 23). Zweck des § 1829 BGB ist es, die Entscheidungsfreiheit des Betreuers zu schützen, der erst durch die Mitteilung der Genehmigung den Schwebezustand beendet und das Rechtsgeschäft wirksam werden lässt. Dem Betreuer wird damit die Möglichkeit eröffnet, das bereits genehmigte Rechtsgeschäft erneut zu durchdenken und völlig frei von Bindungen oder Haftungsfolgen über dessen Geltung oder Nichtgeltung zu befinden (BGH, Beschluss vom 30.11.2005 – IV ZR 280/04 -, ZEV 2006, 262, beck-online). Dieser Schutzzweck ist durch die Anwendung des § 151 Satz 1 BGB – gerade in der vorliegenden Fallgestaltung einer eingeräumten Widerrufsfrist bzgl. eines Vergleichs – nicht gefährdet, weil es einem Betreuer auch dann unbenommen bleibt, den Vergleich ohne Angabe von Gründen innerhalb der Widerrufsfrist zu widerrufen.

56
Demnach ist davon auszugehen, dass die allein der Klägerin im Vergleich vom 22.6.2009 eingeräumte Widerrufsfrist auch im Hinblick auf die einzuholende Genehmigung des Vormundschaftsgerichts in den Vergleich aufgenommen worden ist. Den Vergleichsparteien war dabei klar, dass die hiesige Beklagte als Betreuerin der Klägerin den Vergleich jedenfalls dann hätte widerrufen müssen, wenn die vormundschaftsgerichtliche Genehmigung versagt worden wäre. Klar war ihnen damit denknotwendig, dass, wenn die damalige Betreuerin den Vergleich nicht widerriefe, die vormundschaftsgerichtliche Genehmigung vorliegen würde. In der Vereinbarung der Widerrufsfrist (und noch einmal in der Vereinbarung deren Verlängerung) liegt damit eine konkludente Vereinbarung, für diesen Fall auf die Mitteilung der Genehmigung zu verzichten.

57
b) Die Beklagte hat sich auch schuldhaft, nämlich fahrlässig, verhalten.

58
Gemäß § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB haftet der Betreuer für Vorsatz und jede Fahrlässigkeit. Der Maßstab der gemäß § 276 Abs. 2 BGB geforderten Sorgfalt wird jedoch insoweit konkretisiert, als er sich nach dem Lebenskreis, den Lebensumständen und der Rechts- und Geschäftserfahrung des Betreuers bemisst. Ist eine Person gerade im Hinblick auf ihre Fachkunde als Anwalt zum Betreuer bestellt worden, kann erwartet werden, dass sie sich – erforderlichenfalls unter Zuhilfenahme von Fachliteratur – über rechtliche Risiken vergewissert (BGH, Urteil vom 18.9.2003 – XII ZR 13/01 -, juris-Rn. 14), freilich nicht nach der eigenüblichen Sorgfalt (MüKoBGB/Krolls-Ludwig, BGB, 7. Aufl. 2017, § 1833 Rn. 4, beck-online).

59
Gemessen an diesem Maßstab ist das Verhalten der Beklagten als zum streitgegenständlichen Zeitpunkt zugelassener Rechtsanwältin gemäß § 276 Abs. 2 BGB fahrlässig gewesen, weil sie weder im Verfahren zu ihrem Sozialhilfeantrag vom 15.2.2008 die erforderlichen Angaben zum gezahlten Schmerzensgeld gemacht hat, noch gegen den Ablehnungsbescheid des Landkreises Gifhorn vom 7.4.2010 ein Rechtsmittel eingelegt bzw. nach Ablauf der Rechtsmittelfrist einen Überprüfungsantrag gem. § 44 SGB X gestellt hat. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Beklagte während ihrer Betreuung der Klägerin noch Rechtsanwältin war. Der Landkreis hat seine Ablehnung des Leistungsantrags vom 15.2.2008 auf Sozialhilfeleistungen (Anl. K 5 zur Klageschrift vom 5.2.2013, Anlagenband Klägerin) mit dem allgemeinen Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe und der daraus resultierenden Selbsthilfeverpflichtung gem. § 2 Abs. 1 SGB XII begründet. Er hat seine Argumentation darauf gestützt, dass aus einer vergleichsweisen Einigung mehrere hunderttausend Euro gezahlt worden seien. Aufforderungen, entsprechende Nachweise im Rahmen der Mitwirkungspflicht gemäß §§ 60 ff. SGB I beizubringen, sei die Beklagte nicht nachgekommen.

60
Die Beklagte hat also bereits im laufenden Antragsverfahren nicht hinreichend mitgewirkt, ohne das Gründe für diese Versäumnisse erkennbar werden. Spätestens bei Erhalt des ablehnenden Bescheids des Landkreises Gifhorn vom 7.4.2010 wäre es die Pflicht der Beklagten als Rechtsanwältin und Berufsbetreuerin gewesen, sofern sie nicht die entsprechenden Fachkenntnisse im Sozialrecht aufgewiesen hat, sich Rechtsrat bei einem Fachanwalt für Sozialrecht einzuholen. Denn die höchstrichterlichen Entscheidungen zur mangelnden Anrechnung von Schmerzensgeld bei der Bewilligung von Leistungen, waren sowohl im Hinblick auf die Sozialhilfe als auch bzgl. der Asylbewerberleistungen bereits ergangen (zu § 90 SGB XII: BVerwG, Beschluss vom 19.5.2005- 5 B 106/04 -, juris-Rn. 3; BSG, Urteil vom 15.4.2008 – B 14/7b AS 6/07 R -, juris-Rn. 17; vgl. zu §§ 77 Abs. 2, 88 BSHG: BVerwG, Urteil vom 18.5.1995 – 5 C 22/93 -, juris-Rn. 11-16; zu § 7 Abs. 5 AsylbLG: Einführung mit Gesetz vom 19.8.2007, gültig ab 28.8.2007; BVerfG, Beschluss vom 11.7.2006 – 1 BvR 293/05, BVerfGE 116, 229-242, juris).

61
c) Die Pflichtverletzungen der Beklagten haben bei der Klägerin zu einem Schaden in Höhe von 238.000,00 € geführt. Ein weitergehender Schaden ist nach dem Ergebnis der in zweiter Instanz durchgeführten Beweisaufnahme nicht festzustellen.

62
Ein Unterlassen kann einen Schaden zurechenbar verursachen, sofern eine Pflicht zum Handeln bestand und die Vornahme der gebotenen Handlung den Schaden verhindert hätte (Palandt/Grüneberg, BGB, 78. Aufl. 2019, Vorb v § 249 Rn. 51).

63
Ein Schaden ist demnach aufgrund von Versäumnissen bei der Beantragung und Rechtsverfolgung von Sozialleistungen für die Klägerin eingetreten, weil dieser im Zeitraum vom 15.2.2008 bis zum 29.12.2010 ohne diese Versäumnisse Sozialleistungen bzw. staatliche Leistungen nach dem AsylbLG gewährt worden wären (zur grundsätzlichen Leistungsberechtigung weiter unter aa). Die Klägerin hätte lediglich 112.000,00 € aus dem Vergleich zur Begleichung der Behandlungskosten für den Leistungszeitraum zwischen dem 15.2.2008 und dem 29.12.2010 einsetzen müssen (hierzu unter bb). Die restliche Vergleichssumme in Höhe von 238.000,00 € wäre der Klägerin als Schonvermögen verblieben (hierzu unter cc).

64
aa) Die Klägerin ist in der Zeit vom 15.2.2008 bis 13.8.2008 sowie vom 3.12.2010 bis 27.6.2013 nach dem AsylbLG (§ 4 Abs. 1, 3, § 6 Abs. 1 Alt. 2 AsylbLG, in der Fassung vom 19.8.2007) (hierzu unter (1)) und in der Zeit vom 14.8.2008 bis 2.12.2010 nach dem SGB XII (§§ 18, 23, 48 SGB XII) (hierzu unter (2)) grundsätzlich leistungsberechtigt gewesen.

65
(1) Leistungsberechtigt gem. § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG (in der Fassung vom 19.8.2007) sind Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG (in der Fassung vom 19.8.2007). Diese kann einem Ausländer für einen vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland erteilt werden, solange dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Dies gilt für die Klägerin für die Zeit vom 15.2.2008 bis 13.8.2008, weil sie in diesem Zeitraum über eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG verfügt hat.

66
Für den Zeitraum vom 3.12.2010 bis zum 27.6.2013 kann die Klägerin ihre Leistungsberechtigung aus § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG (in der Fassung vom 19.8.2007) ableiten. Hiernach sind diejenigen leistungsberechtigt, die nach dem AsylbLG vollziehbar zur Ausreise verpflichtet sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist. Die Klägerin hat im vorgenannten Zeitraum keine Aufenthaltserlaubnis innegehabt. Sie ist nach dem Ende ihrer unmittelbar davor gemäß § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG (in der Fassung vom 19.8.2007) vorgelegenen Aufenthaltserlaubnis mit Ablauf des 2.12.2010 (bis zum 27.6.2013) vollziehbar ausreisepflichtig gewesen. Ausreisepflichtig sind nach § 50 Abs. 1 AufenthG (in der Fassung vom 19.8.2007) Ausländer, die einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzen. Ein rechtmäßiger Aufenthalt in Deutschland endet mit Erlöschen des Aufenthaltstitels unter den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AufenthG (in der Fassung vom 19.8.2007), insbesondere mit Ablauf der Geltungsdauer (Nr. 1). Vollziehbar ist die Ausreisepflicht unter den Voraussetzungen des § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG (in der Fassung vom 19.8.2007) kraft Gesetzes, insbesondere mit der vollziehbaren Entscheidung nach § 50 Abs. 1 AufenthG (in der Fassung vom 19.8.2007), mit der die Ausreisepflicht des Ausländers einhergeht. Die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung gemäß § 59 AufenthG ist nicht erforderlich (Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 1 AsylbLG, Rn. 128 f.).

67
Die grundsätzliche Anwendbarkeit des AsylbLG für die Klägerin bestätigen auch das LSG Mecklenburg-Vorpommern in seinem Beschluss vom 13.1.2014 – L 9 SO 20/13 B ER – (juris-Rn. 52) sowie das Sozialgericht Schwerin in seinem Urteil vom 30.4.2019 – S 4 SO 24/13 – (Seite 23 f.).

68
(2) In der Zeit vom 14.8.2008 bis zum 2.12.2010 ist die Klägerin gemäß §§ 18, 23, 48 SGB XII grundsätzlich leistungsberechtigt gewesen.

69
Zu dieser Zeit war sie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG (in der Fassung vom 19.8.2007) und damit nicht vollziehbar ausreisepflichtig. Der Ausschluss gem. § 23 Abs. 2 SGB XII (in der Fassung vom 2.12.2006) für Leistungsberechtigte gem. § 1 AsylbLG (in der Fassung vom 19.8.2007) gilt in diesem Zeitraum nicht, weil die Personen mit Aufenthaltsstatus nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG nicht zu den in § 1 AsylbLG (in der Fassung vom 19.8.2007) enumerativ genannten Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gehören. Aus dem gleichen Grund hat das Sozialgericht Schwerin in seinem Urteil vom 30.4.2019 – S 4 SO 24/13 – der Klägerin ab dem 28.6.2013 Leistungen nach dem SGB XII gewährt (Seite 24), nachdem die Klägerin ab dem 28.6.2013 eine vorläufige Bescheinigung über einen bewilligten Aufenthalt nach § 25 Abs. 3 AufenthG, also ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach Vietnam, erhalten hat.

70
bb) Im Rahmen der konkreten Gewährung der Leistungen nach dem SGB XII und AsylbLG wäre der auf den materiellen Schaden – und damit nicht dem Schonvermögen – entfallende Anteil aus der Vergleichssumme auf die Bedürftigkeit der Klägerin anzurechnen gewesen. Der Klägerin ist es nicht gelungen, den Beweis zu führen, dass der aufgrund des Vergleichs vom 22.6.2009 zu zahlende Betrag von 350.000,00 € nur das Schmerzensgeld abgelten sollte.

71
Die Aussagen der von ihr dafür benannten Zeugen sind negativ ergiebig. Weder der Zeuge F. noch der Zeuge Prof. Dr. N. haben bekundet, dass der Zahlbetrag des Vergleichs lediglich das Schmerzensgeld umfassen sollte. Die Zeugen haben vielmehr beide übereinstimmend ausgeführt, dass der Vergleich sowohl den materiellen als auch den immateriellen Schaden abgelten sollte, ohne hierbei die jeweiligen Anteile konkret wiedergeben zu können. Die Aussagen der Zeugen stehen damit im Einklang mit der Erklärung der Beklagten im Rahmen ihrer erstinstanzlichen Anhörung. Auch die Beklagte hat erläutert, dass es bei den Vergleichsverhandlungen keine Differenzierung zwischen Sachschäden und Schmerzensgeldforderungen gegeben habe (vgl. Seite 1 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 5.4.2013 = Bl. 109 d.A.).

72
cc) Entgegen den Ausführungen im angefochtenen Urteil kommt der Klägerin aber für die Schadenshöhe die Beweiserleichterung des § 287 ZPO zugute.

73
Steht wie hier der geltend gemachte Schadensersatzanspruch dem Grunde nach fest und bedarf es lediglich der Ausfüllung zur Höhe, so ist zugunsten des Geschädigten die Beweiserleichterung des § 287 ZPO anzuwenden. Im Unterschied zu den strengen Anforderungen des § 286 Abs. 1 ZPO reicht bei der Entscheidung über die Schadenshöhe eine erhebliche, auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit für die richterliche Überzeugungsbildung aus (BGH, Urteil vom 9.4.1992 – IX ZR 104/91 -, juris-Rn. 8). Zwar ist es Sache des Anspruchsstellers, diejenigen Umstände vorzutragen und gegebenenfalls zu beweisen, die seine Vorstellungen zur Schadenshöhe rechtfertigen sollen. Enthält der diesbezügliche Vortrag Lücken oder Unklarheiten, so ist es in der Regel nicht gerechtfertigt, dem jedenfalls in irgendeiner Höhe Geschädigten jeden Ersatz zu versagen. Der Tatrichter muss vielmehr nach pflichtgemäßen Ermessen beurteilen, ob nach § 287 ZPO nicht wenigstens die Schätzung eines Mindestschadens möglich ist, und darf eine solche Schätzung erst dann gänzlich unterlassen, wenn sie mangels jeglicher konkreter Anhaltspunkte völlig in der Luft hinge und willkürlich wäre (BGH, Urteil vom 29.5.2013 – VIII ZR 174/12 -, juris-Rn. 20; Urteil vom 14.7.2010 – VIII ZR 45/09 -, juris-Rn.19; Urteil vom 24.6.2009 – VIII ZR 332/07 -, juris-Rn. 16).

74
(1) Unter Beachtung dieser Grundsätze hat die Klägerin mit der Aufschlüsselung des Streitgegenstands der Berufungsinstanz vor dem Oberlandesgericht Celle in der Berufungsbegründungsschrift vom 17.4.2009 sowie dem in der Berufungsinstanz festgesetzten Streitwert von 579.163,79 € und dem Vergleichsinhalt zur Zahlung von 350.000,00 € hinreichende Anknüpfungstatsachen für eine Schätzung eines Mindestschadens vorgetragen.

75
Die Berufungsbegründung vom 17.4.2009 schlüsselt den Streitgegenstand unter Annahme einer Haftungsquote von 80 % gegenüber dem Unfallgegner und dessen KFZ-Haftpflichtversicherung vor dem Oberlandesgericht Celle wie folgt auf:

76
1. Schmerzensgeld in Höhe von 370.000,00 €,

77
2. monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 400,00 €,

78
3. materieller Schaden in Höhe von 86.672,84 € und

79
4. Feststellung im Hinblick auf 80 % des weiteren materiellen Schadens aus dem Unfallereignis vom 13.1.2007.

80
Der materielle Schaden in Höhe von 86.672,84 € wird auf Seite 15 der seinerzeitigen Berufungsbegründungsschrift weiter vereinzelt und setzt sich aus den Klinikrechnungen, dem Verdienstausfall der Klägerin als Au-Pair und der gezahlten Betreuervergütung zusammen.

81
(2) Der Mindestschaden errechnet sich aus dem prozentualen Anteil, den das begehrte Schmerzensgeld (370.000,00 €) und die Schmerzensgeldrente (24.000,00 €: Der Wert der Schmerzensgeldrente richtet sich nach § 42 Abs. 1 GKG in der bis zum 1.8.2013 geltenden Fassung, so dass der fünffache Jahresbetrag zugrunde zu legen ist) im Berufungsstreitwert (579.163,79 €) ausmachen. Der errechnete prozentuale Anteil von 68,0 % ist ins Verhältnis zu dem Vergleichsbetrag von 350.000,00 € zu setzen, woraus sich ein Mindestschaden von 238.000,00 € ergibt.

82
Neben dem geltend gemachten Schmerzensgeld von 370.000,00 € ist ebenso die Schmerzensgeldrente mit einem Wert von 24.000,00 € – wie vorstehend erfolgt – bei der Berechnung zu berücksichtigen, weil auch diese dem Schonvermögen zuzuordnen ist, wenn sie durch Kapitalabfindung in den Vergleichsbetrag mit einfließt.

83
(3) Die Klägerin kann weder mit dem Einwand, der von der Beklagten seinerseits für die Klägerin geltend gemachte materielle Schaden in Höhe von 86.672,84 € habe tatsächlich nicht bestanden (hierzu unter (a)) noch mit dem Einwand, der Feststellungsantrag habe im Hinblick auf die Ersatzpflicht der weiteren materiellen Schäden in Höhe von 80 % keine Berücksichtigung in der bezifferten Vergleichssumme gefunden (hierzu unter (b)), durchdringen.

84
(a) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist nicht entscheidungserheblich, ob der von der Beklagten seinerseits geltend gemachte materielle Schaden in Höhe von 86.672,84 € tatsächlich bestanden hat.

85
Selbst wenn die Behauptung der Klägerin, die Beklagte habe keine eigenen Mittel aus dem Vermögen der Klägerin für die Behandlungskosten aufgewendet, an dieser Stelle als wahr unterstellt wird, fehlt es an schlüssigem Sachvortrag zu dem Umstand, dass beiden Parteien des Prozessvergleichs das Nichtbestehen eines bezifferten materiellen Schadens trotz der gerichtlichen Geltendmachung bei Abschluss des Vergleichs bekannt gewesen ist, mithin in den Vergleichsverhandlungen berücksichtigt werden konnte.

86
Soweit die Klägerin darauf abstellt, dass die Kosten der Unterbringung und notwendigen Pflegemaßnahmen in der H. Klinik L. spätestens ab dem 15.2.2008 vom Landkreis Gifhorn bzw. einem anderen Sozialhilfeträger aufzubringen gewesen wären, hätte die Beklagte rechtzeitig Widerspruch gegen den Bescheid vom 7.4.2010 erhoben bzw. das Verfahren nach § 44 SGB X angestrengt, geht diese Auffassung an dieser Stelle fehl. Sie berücksichtigt nicht, dass zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses am 22.6.2009 – also aus Ex-ante-Sicht – weder die Kostenübernahme durch einen positiven Leistungsbescheid des Landkreises Gifhorn noch durch Abschluss einer Krankenversicherung für die Klägerin gesichert geklärt war. Die Beklagte hat zwar für die Klägerin einen Antrag auf Aufnahme bei der D.-Krankenkasse gestellt. Sie hat aber dem Landkreis Gifhorn mit Schreiben vom 11.5.2009 noch mitgeteilt, dass über diesen Antrag noch nicht abschließend entschieden worden sei. Es war zu diesem Zeitpunkt also völlig offen, ob die Klägerin derartige Leistungen erhalten wird.

87
Dies wird im Übrigen auch durch die Aussage des Zeugen F. gestützt, der als Prozessbevollmächtigter der Klägerin das Mediationsverfahren vor dem Oberlandesgericht Celle begleitet hat. Er hat bekundet, er habe zum Zeitpunkt der Vergleichsverhandlungen keinen Einblick in den Stand der Sozialleistungsverfahren gehabt. Es ist davon auszugehen, dass sich die Beklagte diesen für sie günstigen Umstand hilfsweise zu eigen gemacht hat (vgl. BGH, Beschluss vom 10.11.2009 – VI ZR 325/08 -, juris-Rn. 5), 2177).

88
(b) Ebenso kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Feststellungsantrag im Hinblick auf die Ersatzpflicht der weiteren materiellen Schäden in Höhe von 80 % keine Berücksichtigung in der bezifferten Vergleichssumme gefunden habe.

89
Zwar trifft es zu, dass die Parteien des Prozessvergleichs in Ziff. 2 Satz 2 des Vergleichs vom 22.6.2009 den Anspruchsübergang gemäß § 116 SGB X berücksichtigt haben, soweit die Ansprüche auf Sozialversicherungsträger oder auf den privaten Krankenversicherungsträger übergegangen sind oder übergehen werden. Jedoch ist auch hier eine Ex-ante-Betrachtung erforderlich. Bei Abschluss des Vergleichs war – wie bereits dargelegt – nicht gesichert geklärt, ob der Sozialhilfeträger für die Kosten der Behandlung einstehen wird. Auch diesbezüglich hat die Klägerin nicht vorgetragen, dass und ggf. warum die Parteien des Prozessvergleichs bei Abschluss desselbigen ohne Vorlage eines entsprechenden Bescheides des Sozialhilfeträgers von einem gesicherten Anspruchsübergang ab dem 15.2.2008 ausgegangen sind.

90
(c) Ferner kann die Klägerin – neben § 287 ZPO – keine Beweiserleichterung für sich in Anspruch nehmen, die sich an den jeweiligen Verantwortungsbereichen der Parteien oder deren Darlegungslast zu sonstigen Aspekten orientiert. Der Umstand, dass es nach Ansicht der Klägerin Aufgabe der Beklagten sei, darzulegen, in welcher Höhe sie die erhaltenen Gelder tatsächlich erhalten und verwendet hat, kann schon deshalb nicht zu einer Beweislastumkehr dahingehend führen, dass ein Schaden in Höhe von 350.000,00 € zu vermuten ist. Zudem ist es unstreitig, dass die Beklagte die gesamten erhaltenen Zahlungen für Unterbringungs- und Behandlungskosten verwendet hat.

91
Die Umkehr der Beweislast ist ohnehin kein Instrument der Beweiserleichterung im Einzelfall, sondern setzt eine durch Rechtsfortbildung geschaffene Norm voraus (Zöller/Greger, ZPO, 32. Aufl. 2018, Vor § 284 Rn. 22). Eine solche Norm ist für die Betreuerhaftung nach §§ 1908 i Abs. 1 Satz 1, 1833 BGB nicht ersichtlich. Auch wenn die Klägerin aufgrund ihrer durch den Unfall erlittenen Verletzungen keine Möglichkeit hatte, an den Vergleichsgesprächen teilzunehmen, steht ihr mit § 287 ZPO eine hinreichende Möglichkeit zu, einen Mindestschaden geltend zu machen.

92
dd) Die Klägerin trifft kein Mitverschulden i.S.d. § 254 Abs. 2 BGB. Sie hat es weder unterlassen, den Schaden abzuwenden noch ihn zu mindern. Ihr ist auch ein Verschulden ihres gegenwärtigen Betreuers nicht zuzurechnen.

93
(1) Die Beklagte hat zu den Voraussetzungen einer Zurechnung des Mitverschuldens gemäß §§ 254 Abs. 2 Satz 2, 278 BGB nichts vorgetragen. Sie und der gegenwärtige Betreuer haften – eine für den Schaden adäquat kausale Pflichtverletzung des gegenwärtigen Betreuers an dieser Stelle nur unterstellt – gemäß §§ 1908i Abs. 1 Satz 1, 1833 Abs. 2 Satz 1 BGB i.V.m. § 421 BGB im Außenverhältnis gegenüber der Klägerin als Gesamtschuldner. Dies bedeutet, dass die Klägerin als Geschädigte ihren Schaden nach Wahl von jedem der Schädiger ganz oder teilweise ersetzt verlangen kann, insgesamt jedoch nicht über ihren Schaden hinaus.

94
Im Bereich der Anwaltshaftung ist eine schuldhafte Pflichtverletzung des zweiten Rechtsanwalts dem Auftraggeber in dessen Rechtsverhältnis zu seinem früheren Anwalt nicht als Mitverschulden gemäß §§ 254 Abs. 2 Satz 2, 278 BGB zuzurechnen, wenn der erste der nacheinander tätig gewordenen Anwälte einen schadensursächlichen Fehler begangen hat, der vom zweiten Anwalt nicht erkannt oder nicht behoben wurde, und der Auftraggeber sich auf eine sachgerechte Vertragserfüllung des zuerst tätigen Anwalts verlassen durfte. Dies hat zur Folge, dass die Anwälte, die jeweils im Rahmen ihrer selbständigen Pflichtenkreise zum Schaden des Mandanten schuldhaft beigetragen haben, diesem grundsätzlich als Gesamtschuldner haften (BGH, Urteil vom 18.3.1993 – IX ZR 120/92 -, juris-Rn. 29 f.). In einem solchen Fall hat sich nämlich der geschädigte Auftraggeber nicht im Sinne der Vorschrift des § 278 BGB, die im Rahmen des § 254 BGB entsprechend anzuwenden ist, des zweiten Anwalts bedient, um eine im eigenen Interesse gebotene Obliegenheit zur Abwendung oder Minderung seines Schadens zu erfüllen; nur unter einer solchen Voraussetzung darf das Verschulden eines Dritten dem Geschädigten als Mitverschulden zugerechnet werden (BGH, a.a.O.). Diese Grundsätze gelten aufgrund der vergleichbaren Interessenlage für nacheinander tätig werdende Berufsbetreuer entsprechend. Übertragen auf den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass eine Zurechnung des – unterstellten – Verschuldens des gegenwärtigen Betreuers als Mitverschulden der Klägerin nur in Betracht gekommen wäre, wenn dieser Betreuer gezielt mit dem Aufgabenkreis der Überprüfung der von der Beklagten vorgenommenen Tätigkeiten zur Abwendung oder Minderung eines Schadens bestellt worden ist. Hierzu hat die Beklagte auf den Hinweis des Senats vom 24.9.2019 nichts vorgetragen.

95
(2) Unabhängig davon hatte der gegenwärtige Betreuer keine Möglichkeit, den Schaden für die Klägerin durch Inanspruchnahme staatlicher Leistungen (hierzu unter (a)) oder durch Abschluss eines Krankenversicherungsvertrages (hierzu unter (b)) für den Zeitraum vom 15.2.2008 bis einschließlich 29.12.2010 abzuwenden.

96
(a) Eine nachträgliche Inanspruchnahme von staatlichen Leistungen in Höhe von 497.178,63 € für den vorgenannten Zeitraum war und ist der Klägerin mit Hilfe ihres gegenwärtigen Betreuers nicht mehr möglich, weil das Sozialgericht Schwerin die darauf gerichtete Klage der Klägerin rechtskräftig mit Urteil vom 30.4.2009 (S 4 SO 15/19, vormals 4 SO 70/13) abgewiesen hat. Zur Begründung führt das Sozialgericht aus, dass ein Anspruch der Klägerin gegenüber dem Landkreis Gifhorn durch §§ 44 SGB X, 116a SGB XII ausgeschlossen sei. Die Leistungen nach dem SGB XII wie auch nach dem AsylbLG hätten im Rahmen des § 44 SGB X gemäß § 116a Nr. 2 SGB XII bzw. § 9 Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 116a Nr. 2 SGB XII ab dem 1.4.2011 nur binnen eines Jahres geltend gemacht werden können.

97
Hiernach enthält § 116a SGB XII eine von § 44 Abs. 4 SGB X abweichende Sonderregelung (eingeführt durch Art. 3 Nr. 35 des Gesetzes vom 24.3.2011 mit Wirkung vom 1.4.2011), der den Zeitraum der rückwirkenden Bewilligung auf ein Jahr verkürzt. Ist der Überprüfungsantrag vor dem 1.4.2011 gestellt worden, so gilt gem. § 136 SGB XII (in der Fassung des Art. 3 Nr. 41 des Gesetzes vom 24.3.2011 mit Wirkung vom 1.1.2011) unverändert § 44 Abs. 4 SGB X. Hier datiert der Antrag des gegenwärtigen Betreuers der Klägerin vom 17.12.2012, so dass lediglich eine rückwirkende Bewilligung von Sozialleistungen für ein Jahr, dass heißt gemäß der Berechnung nach § 44 Abs. 4 Satz 2 und 3 SGB X ab dem 1.1.2011 möglich gewesen ist. Der Antrag vom 17.12.2012 ist demnach verfristet.

98
Die Sonderregelung des § 116a SGB XII wird nach der überzeugenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in Fällen der Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG analog angewendet (BSG, Urteil vom 26.6.2013 – B 7 AY 6/12 R – juris-Rn. 10-18).

99
Dass der Antrag nach § 44 SGB X durch den gegenwärtigen Betreuer nicht bis zum Ende des Jahres 2011 gestellt wurde, geht nicht auf dessen Versäumnis zurück. Der gegenwärtige Betreuer hat erst durch Einsicht in die Akten des Landkreises Gifhorn am 31.7.2012 Kenntnis vom ablehnenden Bescheid erhalten.

100
(b) Ebenso ist es dem gegenwärtigen Betreuer nicht möglich gewesen, vor dem 28.6.2013 die Auffangpflichtversicherung bei einer gesetzlichen Krankenkasse zu begründen.

101
Der gegenwärtige Betreuer stellte nach Übernahme der Betreuung am 25.1.2012 einen Antrag bei der AOK-X. auf Begründung der gesetzlichen Pflichtversicherung. Die AOK-X. lehnte die Begründung des Versicherungsverhältnisses mit Bescheid vom 13.2.2012 ab, weil die Klägerin zuletzt privat krankenversichert gewesen sei (§ 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V in der Fassung vom 1.1.2009 bis 31.12.2010). Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb ohne Erfolg. Mit Bescheid vom 16.5.2012 wies die AOK-X. die Klägerin daraufhin, dass eine gesetzliche Krankenversicherungspflicht nicht begründet werden könne, weil sie sich seit dem 3.12.2010 illegal im Bundesgebiet aufhalte. Daraufhin beantragte der gegenwärtige Betreuer für die Klägerin bei der zuständigen Ausländerbehörde am 21.6.2012 eine Aufenthaltserlaubnis wegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses. Nach Prüfung der zuständigen Ausländerbehörde erhielt die Klägerin vom 28.6.2013 bis zum 27.6.2016 eine Aufenthaltsgenehmigung; damit verbunden konnte die Auffangpflichtversicherung ab dem 28.6.2013 wirksam begründet werden. Wegen der weiteren Einzelheiten des mit der Begründung der Pflichtversicherung verbundenen Sachvortrages wird auf den Tatbestand des Urteils des Sozialgerichts Schwerin vom 30.4.2019 (S 4 SO 15/19, Seite 7 – 10 = Bl. 508 – 511 d.A.) verwiesen.

102
Der gegenwärtige Betreuer hat demnach alles Notwendige unternommen, um die Aufnahme der Klägerin in die gesetzliche Krankenkasse herbeizuführen. Den streitgegenständlichen Zeitraum vom 15.2.2008 bis einschließlich zum 29.12.2010 hat er hingegen nicht abdecken können, weil die Kassenmitgliedschaft nach wirksam ausgeübtem Wahlrecht bei der ausgewählten Krankenkasse nur für die Zukunft besteht (vgl. Blöcher/R. Klein in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 173 SGB V Rn. 44), ihm die Betreuung aber erst Ende Oktober 2011 übertragen wurde.

103
3. Die Schadenssumme ist ab dem 9.3.2013 antragsgemäß zu verzinsen. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 288 Abs. 1, 291 BGB. Für den Zinsbeginn findet § 187 BGB entsprechende Anwendung (Palandt/Ellenberger, BGB, 78. Aufl. 2019, § 187 Rn. 1 a.E.). Die Klageschrift ist den Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 8.3.2013 zugestellt worden.

III.

104
1. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92 Abs. 1 Satz 1, 97 Abs. 1, 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO.

105
Die Kosten der I. und II. Instanz sind jeweils verhältnismäßig nach dem jeweiligen Obsiegen und Unterliegen der Parteien zu teilen. Die Klägerin unterliegt jeweils in Höhe von 112.000,00 €, die Beklagte verliert mit 238.000,00 €.

106
In I. Instanz hat die Klägerin hierneben die Kosten der Teilklagerücknahme zu tragen, nachdem sie den im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 11.7.2014 gestellten Antrag aus dem Schriftsatz vom 20.6.2014 auf Freistellung von einer Zahlungsverpflichtung in Höhe von 8.004,62 € mit Schriftsatz vom 20.8.2014 wirksam zurückgenommen hat.

107
Die Anteile des Obsiegens und Unterliegens sind für die Kosten I. Instanz in das Verhältnis zu dem fiktiven Streitwert von 358.004,62 € zu setzen. Die Anwendung des § 92 Abs. 2 ZPO ist trotz der verhältnismäßig geringfügigen Zuvielforderung nicht angezeigt, weil die Klageerweiterung zum Überschreiten der Gebührenstufe von 350.000,00 € geführt hat.

108
Für die Kosten II. Instanz sind die Anteile des Obsiegens und Unterliegens in das Verhältnis zu dem Streitwert des Berufungsrechtszuges von 350.000,00 € zu setzen.

109
2. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

110
3. Die Revision war nicht zuzulassen. Die Voraussetzungen i.S.v. § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor. Die Entscheidung beruht auf den Umständen des Einzelfalls in Übereinstimmung mit der gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung.

111
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren war gemäß §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 48 Abs. 1 GKG, § 3 ZPO auf 350.000,00 € festzusetzen.

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