BGH, Beschluss vom 25.04.2018 – XII ZB 528/17
Die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen ist nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 23. August 2017, XII ZB 611/16, FamRZ 2017, 1865 mwN).(Rn.7)
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Der Betroffenen wird als Beschwerdeführerin für das Verfahren der Rechtsbeschwerde ratenfreie Verfahrenskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt beigeordnet (§§ 76 Abs. 1, 78 Abs. 1 FamFG iVm § 114 ZPO).
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Freiburg im Breisgau vom 12. September 2017 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Wert: 5.000 €
Gründe
I.
1
Das Amtsgericht hat für die 37jährige Betroffene eine Betreuung mit dem Aufgabenkreis Vermögenssorge, Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung, Abschluss, Änderung und Kontrolle der Einhaltung eines Heim-Pflegevertrags, Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post sowie Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern und Wohnungsangelegenheiten eingerichtet und eine Berufsbetreuerin bestellt.
2
Das Landgericht hat die Beschwerde der Betroffenen überwiegend zurückgewiesen; es hat statt der vom Amtsgericht eingesetzten Betreuerin den weiteren Beteiligten zum Berufsbetreuer bestellt, vom Aufgabenkreis des Betreuers Wohnungsangelegenheiten sowie Abschluss, Änderung und Kontrolle der Einhaltung eines Heim-Pflegevertrags ausgenommen und die Überprüfungsfrist um rund zwei Jahre verkürzt. Mit ihrer Rechtsbeschwerde wendet sich die Betroffene weiterhin gegen die Anordnung einer Betreuung.
II.
3
Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
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1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Die Betroffene leide nach der Diagnose der Sachverständigen an einer schweren – akut rezidiven – paranoid-halluzinatorischen Psychose und sei nicht in der Lage, komplexere Sachverhalte in den genannten Bereichen zu überblicken und zu regeln. Sie verfüge über keinerlei Krankheits- und Behandlungseinsicht. Aufgrund der Erkrankung bestehe ein konkreter Betreuungsbedarf in dem Aufgabenkreis, da die Betroffene zwar kurzfristig gewisse Erfolge in ihrer Selbstorganisation erreicht habe, jedoch zu einer realitätsgerechten vorausschauenden Einschätzung und Planung komplexer Vorgänge nicht in der Lage sei.
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2. Diese Ausführungen beruhen auf verfahrensfehlerhaft getroffenen Feststellungen. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers unterblieben ist.
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a) Gemäß § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist. Nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG ist die Bestellung in der Regel erforderlich, wenn Gegenstand des Verfahrens die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betroffenen oder die Erweiterung des Aufgabenkreises hierauf ist. Gemäß § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG kann von der Bestellung in den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 abgesehen werden, wenn ein Interesse des Betroffenen an der Bestellung des Verfahrenspflegers offensichtlich nicht besteht. Nach § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG ist die Nichtbestellung zu begründen. Dabei unterfällt es der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht, ob die den Tatsacheninstanzen obliegende Entscheidung ermessensfehlerfrei getroffen worden ist (Senatsbeschluss vom 23. August 2017 – XII ZB 611/16 – FamRZ 2017, 1865 Rn. 6 mwN).
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Auf dieser gesetzlichen Grundlage ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt. Für einen in diesem Sinne umfassenden Verfahrensgegenstand spricht es, wenn die Betreuung auf einen Aufgabenkreis erstreckt wird, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen umfasst. Selbst wenn dem Betroffenen nach der Entscheidung letztlich einzelne restliche Bereiche zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung verblieben sind, entbindet dies jedenfalls dann nicht von der Bestellung eines Verfahrenspflegers, wenn die verbliebenen Befugnisse dem Betroffenen in seiner konkreten Lebensgestaltung keinen nennenswerten eigenen Handlungsspielraum belassen (Senatsbeschluss vom 23. August 2017 – XII ZB 611/16 – FamRZ 2017, 1865 Rn. 7 mwN).
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b) Gemessen hieran kann die Entscheidung des Landgerichts keinen Bestand haben. Das Amtsgericht hat die Betreuung auf einen Aufgabenkreis erstreckt, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung der Betroffenen umfasst, so dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers gemäß § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG grundsätzlich erforderlich war. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass das Beschwerdegericht den Aufgabenkreis gegenüber der amtsgerichtlichen Entscheidung etwas enger gefasst hat. Denn auch im Beschwerdeverfahren stand die Aufrechterhaltung des gesamten vom Amtsgericht angeordneten Aufgabenkreises noch im Raum. Der Betroffenen verbleibt daneben kein nennenswerter eigener Handlungsspielraum.
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Da die Interessen der Betroffenen im Betreuungsverfahren nicht von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten gemäß § 276 Abs. 4 FamFG vertreten worden sind, hätte nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG nur unter den bereits genannten Voraussetzungen von der Bestellung eines Verfahrenspflegers abgesehen werden können. Eine Verfahrenspflegschaft ist nur dann nicht anzuordnen, wenn sie nach den gegebenen Umständen einen rein formalen Charakter hätte. Ob es sich um einen solchen Ausnahmefall handelt, ist anhand der gemäß § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorgeschriebenen Begründung zu beurteilen (Senatsbeschluss vom 16. März 2016 – XII ZB 203/14 – NJW 2016, 1828 Rn. 11).
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Weil das Landgericht entgegen § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG nicht begründet hat, warum es keinen Verfahrenspfleger bestellt hat, kann der Senat weder prüfen, ob es von seinem Ermessen überhaupt Gebrauch gemacht hat, noch ob die Entscheidung ermessensfehlerfrei ergangen ist. Die vom Amtsgericht gegebene Begründung, die Betroffene sei aufgrund ihrer juristischen Vorbildung in der Lage, ihre Rechte selbst wahrzunehmen, ist nicht tragfähig. Jedenfalls dann, wenn – wie hier – eine Betreuung gegen den Willen des Betroffenen angeordnet werden soll, weil er zur Überzeugung des Gerichts nicht in der Lage ist, seinen Willen frei zu bestimmen, kann aus der juristischen Vorbildung eines Betroffenen nicht geschlossen werden, er sei auch selbst zur Wahrnehmung seiner Interessen im Betreuungsverfahren in der Lage.
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3. Gemäß § 74 Abs. 5 und Abs. 6 Satz 2 FamFG ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.
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Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin: Bei seiner Entscheidung wird das Landgericht zu berücksichtigen haben, dass ein Betreuer nur für einen Aufgabenkreis bestellt werden darf, in dem die Betreuung erforderlich ist, was wiederum aufgrund der konkreten, gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu beurteilen ist (Senatsbeschluss vom 27. September 2017 – XII ZB 330/17 – FamRZ 2018, 54 Rn. 12 mwN). Dabei ist das Vorliegen eines aktuellen Handlungsbedarfs nicht zwingend erforderlich; es genügt, dass dieser Bedarf jederzeit auftreten kann und für diesen Fall die begründete Besorgnis besteht, dass ohne die Einrichtung einer Betreuung nicht das Notwendige veranlasst wird (Senatsbeschluss vom 18. Oktober 2017 – XII ZB 336/17 – FamRZ 2018, 134 Rn. 20 mwN). Ob eine Betreuung erforderlich ist, ist für jeden Bereich zu begründen, in dem die Betreuung angeordnet wird.
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4. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).