AG Dresden, Beschluss vom 23. März 2020 – 404 XVII 80/20
Zu den Anforderungen an das durch das Coronavirus ausgelöste Absehen von der persönlichen Anhörung des Betroffenen und des Verfahrenspflegers im Rahmen der Bestellung eines Betreuers.
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
1. Es wird Betreuung angeordnet.
2. Zur Betreuerin wird bestellt:
… als Berufsbetreuerin. Das Amt wird berufsmäßig ausgeübt mit folgenden Aufgabenkreisen:
– alle Angelegenheiten inkl. Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post.
3. Das Gericht wird spätestens bis 22.03.2027 über eine Aufhebung oder Verlängerung der Betreuung beschließen. Bis zu dieser Entscheidung gelten die getroffenen Regelungen fort.
Gründe
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Die Voraussetzungen für die Anordnung einer Betreuung mit den vorstehend beschriebenen Aufgabenkreisen sind gegeben. Die Betroffene ist nicht in der Lage, diese Angelegenheiten zu besorgen.
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Die Betroffene leidet an einer der in § 1896 Abs. 1Satz 1 BGB aufgeführten Krankheiten bzw. Behinderungen, nämlich einer psychischen Krankheit in Form einer senilen Demenz.
3
Die dadurch bestehenden Beeinträchtigungen sind die Ursache, dass die Betroffene ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann.
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Auf Grund der beschriebenen Diagnose ist die Betroffene nicht in der Lage, ihren Willen hinsichtlich der Notwendigkeit der Betreuung frei zu bestimmen.
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Dies folgt aus dem Ergebnis der gerichtlichen Ermittlungen, insbesondere aus
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– dem Gutachten der Sachverständigen … vom 12.03.2020
– dem Bericht der Betreuungsbehörde
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Die Entscheidung ergeht ohne persönliche Anhörung der Betroffenen. Diese einschneidende Verfahrensgestaltung, welche das elementare verfassungsrechtliche Postulat des Art. 103 GG nicht wirksam werden lässt, beruht auf einer Anwendung der §§ 278 Abs. 4, 319 Abs. 3, jeweils i.V.m. 34 Abs. 2 FamFG in ausweitender Auslegung durch Anwendung des § 291 ZPO, einer analogen Anwendung des § 420 Abs. 2 FamFG wegen der Gefährdungen anderer Verfahrensbeteiligten sowie notwendig einbezogener Dritter.
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Das Gesetz zur Regelung in Familiensachen sowie in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sieht in mehreren Bestimmungen eine Abweichung von der generell vorgeschriebenen persönlichen Anhörung des wichtigsten Beteiligten, des von der jeweiligen gerichtlichen Entscheidung Betroffenen, vor. Dies geschieht beispielsweise wegen des erheblichen Eilbedürfnisses in §§ 301, 332 FamFG, doch ist diese Situation vorliegend nicht gegeben. Aktuell geht es um den Schutz des Betroffenen selbst, des erkennenden Gerichts, sowie der am Verfahren unmittelbar Beteiligten und der die Anhörung erst ermöglichenden weiteren Personen.
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Grundlage aller nachfolgenden Erwägungen ist die zum Zeitpunkt der Beschlussfassung eingetretene Situation infolge des sich rasant verbreitenden Coronavirus (SARS-CoV-2; COVID-19; ICD-10: U07.1[!]). Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat am 30.1.2020 eine „Notlage für die öffentliche Gesundheit von internationaler Tragweite“ konstatiert, am 11.3.2020 die Einstufung einer Pandemie vorgenommen (diese Feststellung sowie alle folgenden weiteren zu den tatsächlichen gesundheitlichen Tatsachen basieren auf den Angaben des Robert-Koch-Institutes, welche auf deren Homepage www.rki.de nachzulesen sind). DasRobert-Koch-Institut hat in der Risikobewertung vom 17.3.2020 die „Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland […] als hoch eingeschätzt“.
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Das Absehen von der persönlichen Anhörung des Betroffenen beschneidet ihn zwar massiv in seinem Recht auf rechtliches Gehör, welches in Art. 103 GG mit verfassungsrechtlichem Rang versehen ist. Er schützt ihn aber zugleich, denn es ist zurzeit von einer Letalität bei der Infektion von rund 1 % auszugehen, wobei dies eine konservative Schätzung ist. Dabei ist zu beachten, dass die in Betreuungs- und Unterbringungsverfahren regelmäßig Betroffenen zu einem ganz hohen Anteil zu den vom Robert-Koch-Institut benannten Risikogruppen gehören, weil sie entweder hohen Alters sind oder aber eine relevante internistische Vorerkrankung aufweisen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich für das Gericht unter Abwägung der ganz erheblichen rechtlichen Nachteile durch den Entfall des rechtlichen Gehörs gegenüber den Vorteilen durch das Unterbleiben einer mit erheblicher Todesgefahr verbundenen Infektion ein Überwiegen des Ausschlusses der Ansteckung. Dies deshalb, weil im Vergleich mit den üblicherweise im medizinischen Bereich anzutreffenden Wahrscheinlichkeiten die Letalitätsrate signifikant hoch ist. Auch geht es nicht um reversible Schäden, sondern um den Tod des betroffenen Menschen.
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Der Schutz des Betroffenen vor einer gravierenden Schädigung seiner Gesundheit durch die Anhörung ist in §§ 278 Abs. 4, 319 Abs. 3 FamFG durch den Gesetzgeber geregelt. Diese Normen ermöglichen in Verbindung mit § 34 Abs. 2 FamFG das Unterbleiben der persönlichen Anhörung eines Betroffenen, wenn hiervon erhebliche Nachteile für seine Gesundheit zu besorgen sind und dies durch ein ärztliches Gutachten nachgewiesen wurde. Die geforderten erheblichen Nachteile für die Gesundheit des Betroffenen durch eine Anhörung bestehen in der Infektion mit dem umgangssprachlich sogenannten Corona-Virus und sind im vorgenannten Absatz ausführlich dargestellt worden. Weiterhin ist nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Normen erforderlich, dass die Gefährdungen durch ein Gutachten nachgewiesen sind. Diese Formulierungen lassen an den Strengbeweis des § 30 FamFG erinnern, sind aber rechtsdogmatisch nichts anderes als eine einschränkende Ausformung des Amtsermittlungsgrundsatzes aus § 26 FamFG. Die Formulierung der Vorschriften ist in sich schlüssig und vor dem Hintergrund des Erfahrungshorizontes bei Schaffung der Gesamtkodifikation des FamFG in den Jahren 2008/2009 konsequent. Es ging stets um die Regelung eines Einzelfalles und der diesbezüglichen Sicherstellung der seitens des Gerichtes zu treffenden Feststellungen für den Fall des Absehens von der persönlichen Anhörung. Die eingetretene Lage des Jahres 2020 konnte nicht im Entferntesten vorhergesehen und deswegen auch nicht in die Überlegungen zur gesetzlichen Regelung einbezogen werden. Aus diesem Grunde ist nunmehr ohne weitergehende rechtliche Probleme die Vorschrift des § 291 ZPO für die Anwendung der §§ 278 Abs. 4, 319 Abs. 3, jeweils i.V.m. 34 Abs. 2 FamFG heranzuziehen. Sie besagt, dass Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, keines Beweises bedürfen. Es ist einhellige Ansicht, dass unter den Begriff der „Offenkundigkeit“ auch allgemeinkundige Tatsachen fallen (vgl. statt aller Münchener Kommentar zur ZPO-Prütting, § 291, Rz. 5). Hierunter zu subsumieren sind solche, die generell oder in einem bestimmten Bereich einer beliebig großen Zahl von Personen bekannt oder zumindest wahrnehmbar sind, wobei es genügt, dass man sich auf einer allgemein zugänglichen zuverlässigen Quelle ohne besondere Fachkenntnisse sicher unterrichten kann (vgl. grundlegend BGH v. 14.7.1954 -6 StR 180/54, BGHSt Bd. 6, S. 292ff.). Als typische Informationsquellen für allgemeinkundige Tatsachen sind insbesondere „jedermann zugängliche wissenschaftliche Nachschlagewerke, Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk, Fernsehen pp. anerkannt“ (vgl. wiederum statt aller Münchener Kommentar zur ZPO-Prütting, § 291, Rz. 6). Das Robert-Koch-Institut ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Es kann daher keinem Zweifel unterliegen, dass es eine Informationsquelle für allgemeinkundige Tatsachen darstellt. Dies gilt mithin für alle vorgenannten wissenschaftlich relevanten Aspekte zum sogenannten Corona-Virus. Damit aber sind die Voraussetzungen der Allgemeinkundigkeit und damit des Entfallens der Beweisbedürftigkeit nach § 291 ZPO gegeben. Gleiches gilt damit auch für die Entbehrlichkeit der Einholung eines Sachverständigengutachtens nach §§ 278 Abs. 4, 319 Abs. 3, jeweils i.V.m. 34 Abs. 2 FamFG, da die Bedingungen der Verfahrensordnung den Vorstellungen des Gesetzgebers entsprechend seines damaligen Horizontes gegeben sind. Die Anhörung des Betroffenen kann somit entfallen. Sie muss auch nicht nachgeholt werden.
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Im zweiten Aspekt geht es um den Schutz des erkennenden Gerichtes. Von einer Infektionsgefahr ist nicht nur der Betroffene, sondern sind auch die jeweilige Richterin oder der jeweilige Richter betroffen. Diese Situation ist im Betreuungs- und Unterbringungsrecht vom Gesetzgeber nicht vorhergesehen und dementsprechend nicht geregelt worden. Wohl aber ist sie einer Normierung zugeführt worden bei der Freiheitsentziehung nach dem Infektionsschutzgesetz, und zwar in § 420 Abs. 2 FamFG. Wegen der bestehenden planwidrigen Regelungslücke kann diese Norm im Betreuungs- und Unterbringungsrecht bei gleicher Tatsachengrundlage analog angewendet werden (s. z.B. Keidel-Giers, 20. Aufl., 2019, § 278, Rz. 23, mit Hinweis auf Bahrenfuss-Grotkopp, § 319, Rz. 29f.). Wegen der aktuellen Gefährdungslage ist auf die obigen Ausführungen zu verweisen. Mithin kann die Anhörung des Betroffenen unter entsprechender Anwendung des § 420 Abs. 2 FamFG ebenfalls unterbleiben. Sie muss nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm nicht nachgeholt werden.
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Schließlich ist noch ein Aspekt hinzuzuziehen, der aktuell erhebliche Bedeutung besitzt, vor dem Hintergrund des Erfahrungshorizontes des Gesetzgebers bei Schaffung der Gesamtkodifikation des FamFG in den Jahren 2008/2009 jedoch gänzlich unbekannt war. Es geht um den Schutz des bei jeglicher Anhörung durch den Richter eingebundenen Personals der jeweiligen Einrichtung. Die sind Ärztinnen/Ärzte und Krankenschwestern im Krankenhaus, Pflegedienstleitungen und Pflegerinnen/Pfleger in (geschlossenen) Pflegeeinrichtungen. Sie sind nicht Beteiligte des gerichtlichen Verfahrens und aus diesem Grunde völlig konsequent nicht in das Kodifikationssystem des FamFG eingebunden worden. Gleichwohl unterliegen sie infolge des Kontaktes mit der Entscheiderin/dem Entscheider des Gerichtes dem o.g. dargelegten Infektionsrisiko. Da dieses auf der anberaumten Anhörung herrührt, fällt das Risiko in den Verantwortungsbereich der Justiz.
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Die vorgenannten Ausführungen gelten zudem für den eventuell durch das Gericht nach §§ 276, 317 FamFG bestellten Verfahrenspfleger, der seine hervorgehobene Rolle als Beteiligter des Verfahrens nur dann pflichtgemäß ausüben kann, wenn er an der Anhörung als wesentlichen Verfahrensbestandteil auch tatsächlich teilnehmen kann (z.B. Keidel-Giers, 20. Aufl., 2019, § 276, Rz. 23), gleichermaßen.
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Bereits die Ausführungen zu den Risiken der Infektion des Betroffenen führen zur Begründung des Absehens von seiner Anhörung. Dies gilt für diejenigen der möglicherweise eintretenden Ansteckung der Richterin oder des Richters gleichermaßen. Nimmt man noch die Risiken für den Verfahrenspfleger und das Personal der Einrichtungen hinzu, so dürfte es aus Rechtsgründen nachgerade zwingend sein, dass die Anhörung des Betroffenen im vorliegenden Verfahren nicht durchgeführt wird. Nun soll nicht verkannt werden, dass gegebenenfalls durch geeignete andere Maßnahmen das Infektionsrisiko so verringert werden kann, dass eine Anhörung auf anderem als dem üblichen Wege stattfinden kann und muss (Bahrenfuss-Grotkopp, § 420, Rz. 11). Infolge der aktuell überhaupt nicht einmal vorhandenen basalen Sicherungsmaßnahmen durch einen Mundschutz pp. bestehen diese Möglichkeiten nicht. Die Anhörung muss deshalb unterbleiben.
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Ein Betreuer ist verpflichtet, Änderungen, die eine Einschränkung, Aufhebung oder Erweiterung der Betreuung erforderlich machen, dem Gericht unverzüglich mitzuteilen.
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Bei der Festsetzung der Frist ist das Gericht dem ärztlichen Gutachten bzw. Zeugnis gefolgt und hat das Gericht die gesetzlich zulässige Frist zugrunde gelegt.