Zu den Voraussetzungen für eine Betreuerbestellung für „alle Angelegenheiten“ und zur Befugnis zum Vollmachtwiderruf

BGH, Beschluss vom 13. Mai 2020 – XII ZB 61/20

1. Die Bestellung eines Betreuers für „alle Angelegenheiten“ des Betroffenen kommt nur in Betracht, wenn dieser aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung keine seiner Angelegenheiten selbst besorgen kann. Zusätzlich muss in sämtlichen Bereichen, die das Leben des Betroffenen ausmachen, ein Handlungsbedarf bestehen.(Rn.9)

2. Eine Befugnis zum Vollmachtwiderruf muss dem Betreuer auch dann als eigenständiger Aufgabenkreis ausdrücklich zugewiesen werden, wenn im Übrigen eine Betreuung für alle Angelegenheiten eingerichtet ist (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 28. Juli 2015 – XII ZB 674/14, BGHZ 206, 321 = FamRZ 2015, 1702).(Rn.14)

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Die Rechtsbeschwerde des weiteren Beteiligten zu 5 gegen den Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Amberg vom 22. Januar 2020 wird zurückgewiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Wert: 5.000 €

Gründe
I.

1
Für die 96-jährige Betroffene wurden Mitte 2017 eine Betreuung mit dem Aufgabenkreis Gesundheitssorge einschließlich damit verbundener Aufenthaltsbestimmung, Organisation der ambulanten Versorgung und Abschluss, Änderung und Kontrolle der Einhaltung eines Heim-Pflegevertrags angeordnet und der Beteiligte zu 4 zum Berufsbetreuer sowie die Beteiligte zu 3 zur Ersatzbetreuerin bestellt.

2
Durch weiteren Beschluss vom 19. September 2018 hat das Amtsgericht die Betreuung erweitert auf den Aufgabenkreis „alle Angelegenheiten incl. Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post und Widerruf der Vorsorgevollmacht“ sowie die Überprüfungsfrist verlängert.

3
Das Landgericht hat die Beschwerden der Betroffenen und ihres vorsorgebevollmächtigten Sohnes, des Beteiligten zu 5, zurückgewiesen. Auf die Rechtsbeschwerde des Sohnes hat der Senat die Entscheidung des Landgerichts durch Beschluss vom 22. Mai 2019 (XII ZB 7/19FamRZ 2019, 1358) aufgehoben und die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Nach Einholung eines aktualisierten Sachverständigengutachtens sowie Anhörung der Betroffenen in Anwesenheit des Verfahrenspflegers hat das Landgericht die Beschwerden erneut zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Sohn wiederum im Wege der Rechtsbeschwerde.

II.

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Die Rechtsbeschwerde bleibt ohne Erfolg.

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1. Das Landgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Die Betroffene bedürfe der umfassenden Betreuung. Sie sei infolge ihrer senilen Demenz und körperlichen Gebrechlichkeit nicht mehr in der Lage, irgendwelche sie betreffenden Angelegenheiten selbst wahrzunehmen. Sie sei körperlich immobil, könne auch einen Stift nicht richtig greifen und ihren Namen nicht selbstständig schreiben. Ihren Sohn habe sie bei der Anhörung nicht erkannt und auch ihr Geburtsdatum habe sie nicht gewusst. Sie habe beständig geäußert, „nach Hause“ zu wollen, ohne diesen Ort näher bezeichnen zu können. Aus dem vorhandenen Krankheitsbild der senilen Demenz folge ihr Unvermögen zur Besorgung ihrer Angelegenheiten. Trotz der dem Sohn erteilten Vollmacht sei eine Betreuung unentbehrlich. Dieser sei nicht geeignet, die Angelegenheiten der Betroffenen zu besorgen. Mit der Pflege seiner Mutter sei er ebenso überfordert wie mit deren etwaiger Organisation. Seit Aufnahme der Betroffenen in ein Pflegeheim mache er von der Vorsorgevollmacht treuwidrig keinen Gebrauch. Er nehme keine Zahlungen an das Heim vor, stelle keine Leistungsanträge und lasse die Post ungeöffnet. Zudem sei er gesundheitlich ungeeignet aufgrund eigener kombinierter Persönlichkeitsstörung mit expansiv-querulatorischen, reizbar-explosiven und paranoiden Anteilen.

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2. Die angefochtene Entscheidung hält einer rechtlichen Nachprüfung stand. Das Landgericht hat die Voraussetzungen für die Einrichtung einer Betreuung mit dem bezeichneten Aufgabenkreis rechtsfehlerfrei festgestellt.

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a) Gemäß § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB bestellt das Betreuungsgericht dem Betroffenen einen Betreuer, wenn jener aufgrund einer psychischen Krankheit seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann. Nach § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB darf dieser nur für einen Aufgabenkreis bestellt werden, in dem die Betreuung erforderlich ist.

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aa) Für welchen Aufgabenkreis ein Betreuungsbedarf besteht, ist aufgrund der konkreten, gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu beurteilen. Dabei genügt es, wenn ein Handlungsbedarf in dem betreffenden Aufgabenkreis jederzeit auftreten kann (Senatsbeschluss vom 23. Januar 2019 – XII ZB 397/18FamRZ 2019, 638 Rn. 12 mwN).

9
Die Bestellung eines Betreuers für „alle Angelegenheiten“ greift in das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen in umfassender Weise ein. Denn dadurch wird dem Betreuer die Befugnis verliehen, in jeder Hinsicht für den Betroffenen im Rechtsverkehr aufzutreten. Sie kommt deshalb nach dem Erforderlichkeitsgrundsatz nur in Betracht, wenn der Betroffene aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung keine seiner Angelegenheiten selbst besorgen kann. Zusätzlich bedarf es konkreter Darlegung, dass in sämtlichen Bereichen, die das Leben des Betroffenen ausmachen, ein Handlungsbedarf besteht (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Juni 2019 – XII ZB 51/19FamRZ 2019, 1647 Rn. 16).

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Gemäß § 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB ist die Betreuung nicht erforderlich, soweit die Angelegenheiten des Volljährigen durch einen Bevollmächtigten ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können. Aufgrund dieser Vorschrift ist die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung grundsätzlich nachrangig zu einer wirksam erteilten Vorsorgevollmacht (Senatsbeschluss vom 28. März 2012 – XII ZB 629/11FamRZ 2012, 969 Rn. 10).

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bb) Nach diesem Maßstab hat das Landgericht den Betreuungsbedarf in allen Angelegenheiten rechtsfehlerfrei festgestellt. Es hat ausgeführt, dass die Betroffene infolge ihrer senilen Demenz und körperlichen Gebrechlichkeit nicht mehr in der Lage ist, irgendwelche sie betreffenden Angelegenheiten selbst wahrzunehmen. Das Unvermögen umfasst somit sämtliche Bereiche, die das Leben der Betroffenen ausmachen.

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cc) Der Handlungsbedarf ist hier auch nicht dadurch beschränkt, dass die Betroffene ihrem Sohn Vorsorgevollmacht erteilt hat. Eine Vorsorgevollmacht steht der Bestellung eines Betreuers nämlich dann nicht entgegen, wenn der Bevollmächtigte ungeeignet ist, die Angelegenheiten des Betroffenen zu besorgen, insbesondere weil zu befürchten ist, dass die Wahrnehmung der Interessen des Betroffenen durch jenen eine konkrete Gefahr für das Wohl des Betroffenen begründen (Senatsbeschluss vom 7. August 2013 – XII ZB 671/12FamRZ 2013, 1724 Rn. 8). Dies hat das Landgericht hier in tatrichterlicher Verantwortung rechtsfehlerfrei bejaht.

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b) Ebenfalls zu Recht ist dem Betreuer der gesonderte Aufgabenkreis des Vollmachtwiderrufs zugewiesen worden.

14
aa) Allerdings beinhaltet die Befugnis zum Vollmachtwiderruf einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff und muss deswegen dem Betreuer als eigener Aufgabenkreis ausdrücklich zugewiesen werden (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 206, 321 = FamRZ 2015, 1702 Rn. 10 ff.). Das gilt wegen des damit verbundenen besonderen Prüfungsmaßstabs auch dann, wenn im Übrigen eine Betreuung für alle Angelegenheiten eingerichtet ist.

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Soll dem Betreuer die Ermächtigung zum Vollmachtwiderruf übertragen werden, setzt dies tragfähige Feststellungen voraus, dass das Festhalten an der erteilten Vorsorgevollmacht eine künftige Verletzung des Wohls des Betroffenen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit und in erheblicher Schwere befürchten lässt. Sind behebbare Mängel bei der Vollmachtausübung festzustellen, erfordert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz grundsätzlich zunächst den Versuch, durch einen zu bestellenden (Kontroll-)Betreuer auf den Bevollmächtigten positiv einzuwirken, insbesondere durch Verlangen nach Auskunft und Rechenschaftsablegung (§ 666 BGB) sowie die Ausübung bestehender Weisungsrechte. Nur wenn diese Maßnahmen fehlschlagen oder ein solches Vorgehen aufgrund feststehender Tatsachen mit hinreichender Sicherheit als ungeeignet erscheint, drohende Schäden auf diese Weise abzuwenden, ist die Ermächtigung zum Vollmachtwiderruf, der die ultima ratio darstellt, verhältnismäßig (Senatsbeschluss vom 5. Juni 2019 – XII ZB 58/19FamRZ 2019, 1355 Rn. 22 mwN).

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bb) Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Nach den Feststellungen des Landgerichts ist der Sohn als Vorsorgebevollmächtigter seiner 96jährigen Mutter dauerhaft ungeeignet. Er hat seine Vollmacht nicht in einer ihrem Wohl entsprechenden Weise ausgeübt, so dass die Betroffene vor ihrer Heimunterbringung unterkühlt und dehydriert, eingenässt und nahezu unbekleidet ohne Unterlage eines Bettlakens aufgefunden wurde. Um Behördenangelegenheiten sowie die Post kümmert sich der Sohn nicht. Er äußert wahnhafte Vermutungen gegen Verfahrensbeteiligte, sieht sich und seine Mutter als Opfer einer „Betreuungsmafia“ und hat auch im Anhörungstermin gegenüber dem Verfahrenspfleger die Beherrschung verloren. Das Heimpersonal berichtet, von ihm regelmäßig laut beschimpft zu werden, er brülle regelrecht und sei launisch. Damit fehlt dem Sohn die notwendige Grundbereitschaft, mit den Pflegepersonen zu kooperieren, ohne die das Wohl eines Betroffenen nicht verlässlich sichergestellt werden kann (vgl. Senatsbeschluss vom 6. Juli 2016 – XII ZB 131/16FamRZ 2016, 1668 Rn. 21). Der Sohn ist nicht in der Lage, von der ihm erteilten Vollmacht bestimmungsgemäß Gebrauch zu machen. Da dies auf einer Persönlichkeitsstörung beruht, besteht auch keine Aussicht, auf den Bevollmächtigten positiv einzuwirken.

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