AG Flensburg, Beschluss vom 29. Oktober 2019 – 9 XIV 17146 L
1. Eine Unterbringung nach Landesrecht ist nicht erforderlich, wenn die Behandlung im Krankenhaus nach anderen Vorschriften erlaubt ist.
2. Ist eine Behandlung durch mutmaßliche Einwilligung nach § 630d Abs. 1 S. 4 BGB gedeckt, ist eine Unterbringung nicht erforderlich.
3. Ein Delir ist ein psychiatrischer Notfall, dessen Behandlung unverzüglich aufzunehmen und bis zum Abklingen fortzusetzen ist. Eine Einwilligung ist nicht erforderlich. Der Widerspruch gegen die Behandlung des delirbedingt einwilligungsunfähigen Patienten ist unbeachtlich. Das gilt jedenfalls, wenn das Delir die Folge einer Operation ist, die selbst von der mutmaßlichen Einwilligung gedeckt ist.
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Der Antrag der Hansestadt Lübeck vom 28.10.2019 auf Unterbringung der Betroffenen in einem geeigneten Krankenhaus wird zurückgewiesen.
Gründe
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Der Antrag der Hansestadt Lübeck auf Unterbringung der Betroffenen in einem geeigneten Krankenhaus nach §§ 7, 8 PsychKG SH vom 28.10.2019 ist in der gebotenen Schriftform und unter Beifügung eines Gutachtens eines psychiatrieerfahrenen Arztes gestellt worden. Das Gutachten belegt auch, dass mit einem postoperativen Delir eine psychische Erkrankung vorliegt, ICD F 05. Gleichwohl ist die Anordnung der Unterbringung in einem geeigneten Krankenhaus nicht erforderlich.
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Der Aufenthalt der Betroffenen im Krankenhaus ist allerdings aus medizinischen Gründen weiter erforderlich. Wenn eine Behandlung eines Betroffenen in einem Krankenhaus aber ohnehin in rechtmäßiger Weise erfolgt, fehlt es an der Erforderlichkeit, die Unterbringung im Krankenhaus anzuordnen. Dann geschieht nämlich ohne Anordnung dasselbe, wie mit Anordnung. Hierbei allerdings nicht jeder faktische Krankenhausaufenthalt in Betracht gezogen werden, sondern wegen der Einheit der Rechtsordnung nur derjenige, der rechtmäßig ist. Ein solcher liegt aber vor.
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Das Zurückhalten der Betroffenen im Krankenhaus und ihre weitere Behandlung ist durch § 630 d Abs. 1 Satz 4 BGB gerechtfertigt. Die Betroffene hatte sich noch freiwillig wegen von ihr beklagter massiver Unterleibsbeschwerden in das Klinikum begeben, um sich dort behandeln zu lassen. Aufgrund des sich deutlich verschlechternden Gesundheitszustandes der Betroffenen wurde ohne Einwilligung zur Rettung ihres Lebens eine Punktion des Abszesses unter Vollnarkose durchgeführt; entzündungsbedingt war es überdies zu massiven Herzrhythmusstörungen mit der Folge einer Reanimation und einer Intubierung gekommen, auch dies alles ohne Aufklärung und Einwilligung zur Rettung des Lebens der Betroffenen. Nach Entfernung der Intubation und Beendigung der Sedierung wachte die Betroffene nur mühsam auf; es hatte sich mittlerweile ein Delir entwickelt. Die Atemfunktion der Betroffenen ist weiterhin gestört; zur Vermeidung einer Co2 -Überdosis mit der Folge tiefer Schläfrigkeit bis hin zum Ersticken ist eine nichtinvasive Beatmung erforderlich. Dies ergibt sich so aus den Darlegungen der Stationsärzte M. und E., die am 28.10.2019 in der Klinik befragt wurden.
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Angesichts dieses Gesundheitszustandes liegt bei der Betroffenen immer noch ein medizinischer Notfall mit Gefahr im Verzug vor. Das Unterlassen der Behandlung des Delirs und der Atemprobleme der Betroffenen würde ihr Leben gefährden. Die Behandlung duldet auch keinen Aufschub. Dies gilt ungeachtet der Atemproblematik auch für das Delir selbst. Ein Delir ist ausweislich der Darlegungen von Zoremba; N.; Coburn, M. in Deutsches Ärzteblatt 07/2019; S. 101, ein medizinischer Notfall, der zeitnah diagnostiziert und therapiert werden muss. Die Einjahres-Überlebenswahrscheinlichkeit bei Intensivpatienten sinkt mit jedem Delirtag um ca. 10 %. Ein aufgetretenes Delir muss schnellstmöglich einer stationären Behandlung zugeführt werden, so Neu, P. Arzneiverordnung in der Praxis, April 2015, hrsg. Von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Bei einem Delirium handelt es sich um einen akut lebensbedrohlichen medizinischen Notfall. Es muss in jedem Fall eine intensivmedizinische Betreuung erfolgen, so das Öffentliche Gesundheitsportal Österreichs. Jedenfalls ist es geboten, nach Diagnose eines Delirs sofort mit dessen Behandlung zu beginnen.
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Hieraus folgt, dass eine schnelle und nachhaltige Behandlung des Delirs erforderlich mit, mithin ein Notfall mit Gefahr im Verzug vorliegt. Einen solchen setzt § 630 d Abs. 1 Satz 4 BGB voraus, um medizinische Maßnahmen ohne Einwilligung zu rechtfertigen, Wagner in Münchener Kommentar, Rn. 41 zu § 630 d. BGB. Da medizinische Maßnahmen dringlich sind, sind sie auch ohne Einwilligung und auch ohne Einrichtung einer Betreuung, durch die die Einwilligung der einwilligungsunfähigen Betroffenen ersetzt werden könnte, von § 630 d Abs. 1 Satz 4 BGB gedeckt.
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Die Betroffene hat allerdings, wie die behandelnden Ärzte dargelegt haben, des Nachts mehrfach erklärt, dass sie aufstehen und das Krankenhaus verlassen wolle. Das ist im Ergebnis aber unbeachtlich. Man könnte im nächtlichen Verhalten durchaus einen Widerspruch gegen die ärztliche Behandlung sehen. Bei der Anhörung der Betroffenen durch das Gericht war von einem Widerspruch nichts zu hören. Der Betroffenen war die Tragweite ihrer Erkrankung aber keineswegs bewußt, sie freute sich allerdings auf die baldige Rente, was wie das Aufsuchen des Krankenhauses angesichts starker Schmerzen auf den Willen schließen läßt, weiter leben und gesund werden zu wollen.
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Man könnte die nächtliche Erklärung wie den Widerruf einer Einwilligung in eine Heilbehandlung gemäß § 630 d Abs. 3 BGB oder wie den Widerruf einer Patientenverfügung nach § 1901 BGB werten. Allerdings ist Voraussetzung für die Beachtlichkeit eines Widerrufs einer Einwilligung oder einer Patientenverfügung die Entscheidungsfähigkeit des Betroffenen, also seine Einwilligungsfähigkeit, so Schwab. Münchener Kommentar zu § 1901 a BGB, Rn. 37 m.w.N. Dies ergibt sich daraus, dass der Widerruf der „Actus contrarius“ zur Patientenverfügung oder zur Einwilligung ist und mithin dieselben Voraussetzungen hat wie diese Entscheidungen. Außerdem wären Einwilligungen in Behandlungen bzw. Patientenverfügungen weitgehend wertlos, wenn jegliches Widerstreben auch einwilligungsunfähiger Patienten genügen würde. Die Patientenverfügung wird ja sogar explizit für den Fall der Einwilligungsunfähigkeit getroffen.
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Der sog. natürliche Wille der Betroffenen, der sich hier gelegentlich gegen die Behandlung richtet, nötigt die Behandler keineswegs zum Abbruch der Behandlung; diese ist weiterhin zur Lebensrettung und Vermeidung weiterer Gesundheitsschäden erforderlich und also auch nach § 630 d Abs. 1 Satz 4 BGB gerechtfertigt. Da die Klinik keine Anstalten macht, die Behandlung zu beenden, bedarf es nicht der Unterbringung der Betroffenen im Krankenhaus nach öffentlichem Ordnungsrecht. Vielmehr ist bei der einwilligungsunfähigen Patientin die Therapie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln fortzusetzen, wenn sich weder aus der Patientenverfügung noch aus dem mutmaßlichen Patientenwillen noch aus Willensäußerungen eines Bevollmächtigten oder Betreuers die Legitimation für Einschränkungen der Behandlung ergibt, OLG Naumburg, Versicherungsrecht 2014, 591.
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Mit dieser Entscheidung bricht das Amtsgericht Lübeck mit einer im hiesigen Landgerichtsbezirk weit verbreiteten Praxis. In künftigen Fällen werden sich die Behandler, die eine Unterbringung und Fixierung anregen, sich dazu an einen konsiliarisch tätigen Psychiater und sodann an das Gesundheitsamt zum Zwecke der vorläufigen Unterbringung und Antragstellung bei Gericht wenden, selbst prüfen müssen, ob ihre beabsichtigten Maßnahmen nicht bereits von der mutmaßlichen Einwilligung der Betroffenen nach § 630 d Abs. 1 Satz 4 BGB gedeckt sind.
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Insbesondere wenn ein Delir als psychische Erkrankung nach einer bereits notfallmäßig und ohne Einwilligung durchgeführten Maßnahme auftritt, ist auch die Behandlung des Delirs als Notfall von der mutmaßlichen Einwilligung gedeckt.
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Dies ist auch deswegen konsequent, weil ein Delir keineswegs selten und bei älteren Patienten sogar eine häufige bis wahrscheinliche Folge eines medizinischen Eingriffs ist, so dass diese Folge bei der Risikoabschätzung eines Eingriffs oder einer sonstigen Maßnahme ohnehin zu bedenken gewesen war. Wenn allerdings ein Eingriff durch mutmaßliche Einwilligung gedeckt ist, wäre es inkonsequent, die Behandlung der Folgeerkrankung als nicht hierdurch gedeckt zu sehen, wenn auch deren Behandlung wie beim Delir keinerlei Aufschub duldet. Wie das LG Lübeck in seiner Entscheidung vom 27.11.2012 (7 T 732/12) dargelegt hat ist aber die Einrichtung einer Betreuung wegen der nur kurzfristigen und i.d.R. reversiblen Beeinträchtigungen durch das Delir i.d.R. nicht erforderlich. Zur Frage des § 630 d Abs. 1 S. 4 BGB, die Grundlage der vorliegenden Entscheidung ist, konnte sich das LG Lübeck nicht verhalten, da die Vorschrift erst durch Gesetz vom 20.3.2013 eingeführt worden ist.