AG Brandenburg, Beschluss vom 02. September 2021 – 85 XVII 230/15
Eine Amputation ist eine genehmigungsbedürftige Maßnahme im Sinne des § 1904 Abs. 1 BGB.
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
1. Die Einwilligung des Betreuers vom 01./02.09.2021 in den ärztlichen Eingriff, nämlich die Rekanalisation der Beckenarterie und eine Unterschenkel-Amputation links im Rahmen einer Operation, wird betreuungsgerichtlich genehmigt.
2. Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.
Gründe
I.
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Mit Schreiben vom 01.09.2021 (Blatt 1193 der Akte) hat der behandelnde Oberarzt Dr. med. D. M. nach telefonischem Antrag des Betreuers die Erteilung der gerichtlichen Genehmigung beantragt. Zudem hat der Betreuer seinen Antrag auch gegenüber dem hiesigen Richter des Amtsgerichts am 01.09.2021 telefonisch und dann per E-Mail am 02.09.2021 (Blatt 1220 der Akte) wiederholt.
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Das Gericht hat die erforderliche Genehmigung (§ 1904 Abs. 1 BGB) erteilt, weil nach den gerichtlichen Ermittlungen die ärztlichen Eingriffe und die beabsichtigte Operation im wohlverstandenen Interesse des Betroffenen liegen.
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Der behandelnde Oberarzt Dr. med. D. M. führt in seiner ärztlichen Stellungnahme vom 01.09.2021 (Blatt 1193 der Akte) aus, dass bei dem Betroffenen eine periphere arterielle Verschlusskrankheit im Stadium IV nach Fontaine und ein Verschluss der linken Beckenachse vorliegen würde. Somit sei eine Rekanalisation der Beckenarterien und eine Unterschenkelamputation links bei dem Betroffenen indiziert. Die Operation sei auch dringend erforderlich, da der Betroffene ansonsten in einen septischen Schock geraten würde.
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Zudem führte der behandelnde Oberarzt Dr. med. D. M. in seiner ärztlichen Stellungnahme vom 01.09.2021 (Blatt 1193 der Akte) auch aus, dass der Betroffene auf Grund seiner psychiatrischen Grunderkrankung (paranoide Schizophrenie) und der starken kognitiven Einschränkung nicht in der Lage sei eine Entscheidung zu treffen. Die Tragweite seiner Erkrankung erkenne der Betroffene nicht. Am 27. 08.2021 sei auch eine psychiatrische konsiliarische Vorstellung des Betroffenen durch Frau Oberärztin A. S. – Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, A… Fachklinikum B… – erfolgt, die die Notwendigkeit der gemeinsamen Entscheidung befürwortet habe.
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Die Sachverständigen Frau A. C. hat in ihrem Gutachten vom 02.09.2021 (Blatt 1208 bis 1216 der Akte) im Übrigen fachkundig ausgeführt, dass der Betroffene an einer Paranoiden Schizophrenie (Diagnose nach ICD10-Nr. F20.0), Gangrän (Diagnose nach ICD10-Nr. R02), einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit im Stadium IV nach Fontaine und dem Verschluss der linken Beckenachse leidet. Zudem führte sie aus, dass im akuten Krankheitsstadium bei schizophrenen Menschen eine Vielzahl charakteristischer Störungen auftreten würden, die fast alle Bereiche des inneren Erlebens und Verhaltens betreffen würden, wie Wahrnehmung, Denken, Gefühls- und Gemütsleben. Willensbildung, Psychomotorik und Antrieb. Häufig würden nicht wirklich vorhandene Stimmen gehört (sogenanntes Stimmenhören). Es könne auch der Wahn vorkommen, verfolgt ausspioniert oder kontrolliert zu werden. Weiter könne das Gefühl auftreten, fremdgesteuert zu werden, z.B. durch Gedankenentzug oder Gedankeneingebung. Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität seien hier möglich. Auch würden ein sozialer Rückzug, Antriebslosigkeit, mangelnde Motivation, emotionale Verflachung und Freudlosigkeit nicht selten beobachtet. In vielen Fällen komme es zwar nach der erstmaligen Krankheitsphase zu einem Verschwinden der Symptome. Danach könnten in unregelmäßigen Zeitintervallen aber weitere Krankheitsphasen (Rezidive) folgen. Nur bei etwa einem Drittel der Erkrankten würden sich ab einem bestimmten Zeitpunkt alle Symptome vollständig zurück bilden. Bei ungefähr einem weiteren Drittel komme es aber immer wieder zu Rezidiven. Beim letzten Drittel ergebe sich ein chronischer Verlauf, der zu einer andauernden psychischen Behinderung führt, was bei dem hier Betroffenen ihrer fachkundigen Meinung der Fall sei.
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Bei einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit seien die Blutgefäße verengt, die die Beine und Arme mit Sauerstoff versorgen würden. Anfangs gebe es zwar keine Beschwerden. Bei zunehmender Gefäßverengung würden aber Schmerzen erst unter Belastung, später auch in Ruhe auftreten. Wunden würden schlechter heilen. Die Ärzte würden die periphere arterielle Verschlusskrankheit in vier verschiedene Krankheitsstadien einteilen. In welchem Stadium sich der jeweilige Patient befinden würde sei davon abhängig, wie stark die Symptome ausgeprägt seien. In allen Phasen der Erkrankung seien die Betroffenen aber einem erhöhten Risiko für Herz-Kreistauf-Erkrankungen ausgesetzt. Der französische Chirurg René Fontaine habe eine Einteilung dieser Stadien entwickelt.
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Stadium l: Engstellen in Blutgefäßen sind erkennbar, aber keine Beschwerden; zufällige Diagnose;
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Stadium II: Schmerzen bei Belastung, zum Beispiel beim Gehen, zeitweises Hinken (Claudicatio intermittens);
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Stadium III: Schmerzen treten auch in Ruhe auf;
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Stadium IV: Gewebeschädigungen bis hin zu abgestorbenen Bereichen; Auftreten von Wunden und Geschwüren.
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Die hier beim Betroffenen gegebene Sepsis sei eine lebensbedrohliche Erkrankung auf der Grundlage einer fehlgeleiteten Immunantwort infolge einer Infektion. Die Organdysfunktion sei die bestimmende Komponente des Krankheitsbildes. Der septische Schock gehe darüber hinaus mit einer Hypotonie einher.
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Die Diagnostik der Sepsis schließe an erster Stelle die Identifikation des Infektionsherdes (Fokussuche) und des Erregers (mikrobiologische Diagnostik) mit ein. Jede Sepsis sei ein Notfall, der eine umgehende und entschlossene Behandlung erfordern würde. Therapeutisch würden initial zwar die antibiotische Therapie und die Kreislaufstabilisierung im Vordergrund stehen. Im Verlauf der Therapie sei aber das intensivmedizinische Management von Komplikationen entscheidend. Trotz großer Forschungsbemühungen zum Thema Sepsis und Fortschritten in der intensivmedizinischen Behandlung von Patienten mit Sepsis sei die Prognose insbesondere des septischen Schocks weiterhin schlecht. Die Sterberate sei hoch und liege je nach Schwere des Erkrankungsbildes zwischen 10 % und 60 %.
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Insofern führte die Sachverständigen Frau A. C. in ihrem Gutachten vom 02.09.2021 fachkundig aus, dass die beabsichtigte Operation schnellstmöglich durchzuführen sei. Derzeit würden keine Behandlungs- oder Rehabilitationsmaßnahmen bestehen, die eine Beinamputation verhindern würden. Bei der Nekrose würde es sich um abgestorbenes Gewebe handeln. An diesem Ort würden sich Bakterien vermehren, die – ohne Antibiose – zu einer Sepsis führen werden.
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Die Sachverständige A. C. hat in ihrem Gutachten vom 02.09.2021 zudem fachkundig dargelegt, dass der Betroffene diesbezüglich aufgrund wahnhafter Verarbeitung der Realität in Rahmen seiner Grunderkrankung nicht einwilligungsfähig sei. Der Betroffene lehne aktuell die Operation ab, weil er der Meinung sei, dass die Ärzte nicht alle Möglichkeiten erschöpft hätten. Durch die beabsichtigte Operation werde aber der Zustand des Betroffenen stabilisiert. Eine periphere arterielle Verschlusskrankheit im Stadium IV nach Fontaine sei eine chronische Erkrankung. Die Sepsis (Blutvergiftung) werde durch die Operation somit verhindert.
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In ihrem Gutachten vom 02.09.2021 führte die Sachverständige darüber hinaus aus, dass falls eine Operation nicht erfolgen würde davon auszugeben sei, dass der Betroffene eine Sepsis (Blutvergiftung) entwickeln würde. Ohne Behandlung sei sogar der Tod des Betroffenen zu erwarten. Zur Vermeidung erheblicher Nachteile für die Gesundheit des Betroffenen sei es somit erforderlich diese Operation durchzuführen.
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Aufgrund der wahnhaften Verarbeitung sei es im Übrigen auch nicht möglich sich komplett mit dem Betroffenen zu verständigen.
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Eine Genehmigung der ärztlichen Maßnahme sei somit auch gegen den Willen des Betroffenen hier notwendig. Der Betroffene befinde sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung seiner Geistestätigkeit und sei deshalb im Moment auch geschäftsunfähig im Sinne des § 104 Nr. 2 BGB.
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Die Sachverständigen führen in ihrem Gutachten aus, das für den Betroffenen bei Nicht-Durchführung der beabsichtigten Maßnahme die erhebliche Gefahr des Eintritts des Todes besteht.
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Auch aus der Niederschrift über die Anhörung des Betroffenen durch den zuständigen Richter vom 02.09.2021 ist ersichtlich, dass der Betroffene wohl nicht über die notwendige Einsichtsfähigkeit hinsichtlich der hier hinsichtlich der erforderlichen Maßnahmen verfügt.
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Die Betreuungsbehörde erklärte in ihrer Stellungnahme vom 02.09.2021 (Blatt 1217 bis 1218 der Akte) im Übrigen ebenso, dass der Betroffene seit einigen Jahren an paranoider Schizophrenie leiden würde. Nur wenn festgestellt werden würde, dass der Betroffene zu einer freien Willensbildung in der Lage sei, dürfe die Genehmigung aus Sicht der Betreuungsbehörde nicht erteilt werden. Wenn aber nach den Ausführungen des psychiatrischen Konzils vom 27.08.2021 der Betroffene die Tragweite seiner Entscheidung nicht einschätzen könne, sei dies gegebenenfalls anders zu beurteilen. Im Übrigen könne aber auch ohne die gerichtliche Genehmigung die Maßnahme durchgeführt werden, wenn mit dem Aufschub eine Gefahr für den Betroffenen verbunden sei (§ 1904 Abs. 1 Satz 2 BGB).
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Die Verfahrenspflegerin erklärte in ihrer Stellungnahme vom 02.09.2021 (Blatt 1221 der Akte), dass sie – da eine akute Lebensgefahr für den Betroffenen bestehe – die geplante Operation ausdrücklich befürworten würde.
II.
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Bei der Amputation des linken Unterschenkels des Betroffenen handelt es sich um eine genehmigungsbedürftige Maßnahme im Sinne des § 1904 Abs. 1 BGB (OLG Frankfurt/Main, Beschluss vom 15.07.1998, Az.: 20 W 224/98, u.a. in: NJW 1998, Seiten 2747 ff.; LG Darmstadt, Beschluss vom 25.06.2008, Az.: 5 T 368/08, u.a. in: BeckRS 2008, Nr. 19828; AG Nidda, Beschluss vom 23.05.2007, Az.: 6 XVII 165/07, u.a. in: BtPrax 2007, Seite 187; AG Frankfurt/Main, Beschluss vom 25.11.2002, Az.: 45 XVII U 1880/02, u.a. in: FamRZ 2003, Seite 476).
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Gemäß dieser Norm bedarf die Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betroffene aufgrund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet.
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Wenn der Betreute selbst einwilligungsfähig ist – hierfür kommt es nicht auf seine Geschäftsfähigkeit an, sondern auf seine natürliche Einsichtsfähigkeit in Bezug auf die konkrete zur Entscheidung stehende medizinische Maßnahme – so hat sein Wille zwar Vorrang, d.h. die Entscheidung liegt allein bei dem Betreuten (LG Darmstadt, Beschluss vom 25.06.2008, Az.: 5 T 368/08, u.a. in: FamRZ 2009, Seite 543 = BeckRS 2008, Nr. 19828; LG Berlin, Beschluss vom 05.11.1992, Az.: 83 T 423/92, u.a. in: BtPrax 1993, Seiten 66 ff.; Götz, in: Palandt, 80. Auflage, § 1904 BGB, Rn. 4).
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Bei einer fehlenden natürlicher Einsichtsfähigkeit des Betroffenen ist aber der Betreuer für die Erteilung der Einwilligung berufen (LG Darmstadt, Beschluss vom 25.06.2008, Az.: 5 T 368/08, u.a. in: FamRZ 2009, Seite 543 = BeckRS 2008, Nr. 19828; LG Berlin, Beschluss vom 05.11.1992, Az.: 83 T 423/92, u.a. in: BtPrax 1993, Seiten 66 ff.).
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Eine eigene Entscheidung des Betreuers über eine konkrete Einzelmaßnahme im Rahmen der Gesundheitsfürsorge ist, auch wenn die Wahrnehmung der Heilbehandlungsangelegenheiten zu seinem Aufgabenkreis gehört, somit zwar immer nur dann zulässig, wenn der Betroffene im Hinblick auf die konkret geplante Maßnahme nicht einwilligungsfähig ist, d.h. nach seiner natürlichen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit die Bedeutung, Tragweite, Vorteile und Risiken der Maßnahme nicht erfassen kann. Nur in diesem Fall kommt auch eine betreuungsgerichtliche Genehmigung der Entscheidung des Betreuers in Betracht (LG Darmstadt, Beschluss vom 25.06.2008, Az.: 5 T 368/08, u.a. in: FamRZ 2009, Seite 543 = BeckRS 2008, Nr. 19828; LG Berlin, Beschluss vom 05.11.1992, Az.: 83 T 423/92, u.a. in: BtPrax 1993, Seiten 66 ff.).
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Die mangelnde Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen im Hinblick auf die Behandlung seiner Grunderkrankung steht zur Überzeugung des erkennenden Gerichts hier aber fest. Aus dem eingeholten Gutachten ergibt sich zweifelsfrei, dass der Betroffene an einer paranoiden Schizophrenie (Diagnose nach ICD10-Nr. F20.0) leidet und insofern auch völlig krankheitsuneinsichtig ist. Danach ist der Betroffene weiterhin krankheitsuneinsichtig. Daraus folgt, dass der Betroffene für Maßnahmen betreffend die Behandlung seiner Beine auch als einwilligungsunfähig anzusehen ist, eine Entscheidung seines Betreuers über die Behandlung dieser Krankheit und eine darauf bezogene betreuungsgerichtliche Genehmigung also grundsätzlich möglich ist (LG Darmstadt, Beschluss vom 25.06.2008, Az.: 5 T 368/08, u.a. in: FamRZ 2009, Seite 543 = BeckRS 2008, Nr. 19828; LG Berlin, Beschluss vom 05.11.1992, Az.: 83 T 423/92, u.a. in: BtPrax 1993, Seiten 66 ff.).
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Nach diesen Grundsätzen handelt es hier somit um eine der Einwilligung des Betreuers unterliegende und vom Betreuungsgericht zu genehmigende Maßnahme im Sinne des § 1904 Abs. 1 BGB.
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Die Einwilligung zur Amputation obliegt hier somit dem Betreuer, da der Betroffene selbst keine natürliche Einsichtsfähigkeit hinsichtlich der angestrebten Maßnahme besitzt. Er ist nicht mehr in der Lage, unter Abwägung aller hierfür relevanten Umstände eine Entscheidung zu treffen. Das erkennende Gericht schließt sich insoweit den im Sachverhalt wiedergegebenen, überzeugenden Ausführungen der sachverständigen Mediziner an, wonach der Betroffene zweifelsfrei nicht mehr in der Lage ist, die Chancen und Risiken einer Operation sowie die für oder gegen einen Eingriff sprechenden Gesichtspunkte unter Berücksichtigung der Gesamtsituation, in der er sich befindet, hinreichend vollständig zu erfassen. Er ist zwar zeitlich, örtlich und situativ orientiert, jedoch ist ihm wohl eine freie Willensbildung, ein bewusstes Abwägen und Erfassen einer hinreichenden Anzahl der hier relevanten Fakten, nicht mehr möglich. Seine geistigen/seelischen Funktionen sind infolge der paranoiden Schizophrenie zu unvollständig, um eine Abwägung für oder gegen den Eingriff zu treffen. Diese Ausführungen des Sachverständigen A, C. decken sich insoweit mit den von dem Oberarzt Dr. med. D. M. in seinem Schreiben vom 01.09.2021 gemachten Ausführungen der Oberärztin A. S..
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Nicht entscheidend ist deshalb vorliegend, dass der Betroffene geäußert hat, das Bein solle „dran bleiben“. Sinngemäße Äußerungen der Ablehnung der Maßnahme hat der Betroffene stereotyp bisher gegenüber Ärzten, Richtern und den übrigen Verfahrensbeteiligten gemacht; „intuitiv“ lehnt er den Eingriff somit strikt ab. Diese Ablehnung beruht nämlich nicht auf einem freien Willen, da es dem Betroffenen an der notwendigen Einsichtsfähigkeit fehlt, auch wenn seine ihm noch möglichen, in Bezug auf die Frage der Amputation seines Beines noch zielgerichteten Antworten als sein verbliebener natürlicher Wille als Teil seines Selbstbestimmungsrechts zumindest im Rahmen der Abwägung mit zu berücksichtigen ist. Insofern kommen bei einem Wahnkranken bei seinem Versuch einen Willen zu bilden nämlich nicht neue irreale (z. B. wahnhafte) Gesichtspunkte hinzu, die das Gefüge der „Abwägung“ krankhaft überbauen und damit ins Irreale verformen, selbst wenn er nach dem Ergebnis der Anhörung durch den vorsitzenden Richter – trotz fehlender Möglichkeit, die wesentlichen Kriterien für eine Abwägung zu sammeln und zu verarbeiten – in der Lage ist, die Amputation als für ihn nicht akzeptabel zu erkennen und basierend darauf seine Antwort als eigene, ablehnende Entscheidung als „natürlichen Willen“ wiederholt zu bilden.
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Im Ergebnis stehen somit auf der einen Seite im Falle der vom Betroffenen abgelehnten Amputation die relativ große Wahrscheinlichkeit dass er in den nächsten Tagen stirbt und auf der anderen Seite, dass er eine verbesserte Lebensqualität und die konkret zu beziffernde Möglichkeit auf ein längeres Leben hat. In einem solchen Fall erscheint es geboten, einen denkbaren lebensverlängernden Erfolg um den Preis eines abschätzbaren Risikos bei einer Operation hier zu ermöglichen kaufen (LG Darmstadt, Beschluss vom 25.06.2008, Az.: 5 T 368/08, u.a. in: FamRZ 2009, Seite 543 = BeckRS 2008, Nr. 19828; AG Nidda, Beschluss vom 23.05.2007, Az.: 6 XVII 165/07, u.a. in: BtPrax 2007, Seite 187).
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Grundsätzlich ist nämlich eine Entscheidung „für das Leben“ zu treffen (LG Kleve, Beschluss vom 31.03.2009, Az.: 4 T 319/07, u.a. in: BtPrax 2009, Seiten 199 ff.), selbst wenn dies die palliative Versorgung des Betroffenen mit einschließt (AG Brandenburg an der Havel, Beschluss vom 09.08.2021, Az.: 85 XVII 110/21, u.a. in: BeckRS 2021, Nr. 21482 = „juris“).
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Die Voraussetzungen der nach § 1904 Abs.1 BGB erforderlichen Genehmigung sind hier somit als gegeben anzusehen.
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Die Norm des § 1904 BGB enthält selbst keine Regelung, nach welchen Kriterien eine vom Betreuer beantragte Maßnahme zu genehmigen ist. Da jedoch durch das Genehmigungserfordernis eine Überprüfung des Betreuerhandelns gewährleistet werden soll, folgt als oberstes Gebot, dass sich die Entscheidung am Wohl des Betroffenen orientieren muss (OLG Hamm, FGPrax 1997, Seiten 64 f.; LG Darmstadt, Beschluss vom 25.06.2008, Az.: 5 T 368/08, u.a. in: FamRZ 2009, Seite 543 = BeckRS 2008, Nr. 19828). Dies ergibt sich schon aus § 1901 Abs. 2 Satz 1 BGB, wonach der Betreuer in seinem Handeln für den Betreuten dessen Wohl verpflichtet ist. Die Einschätzung des Betreuers, der seine Einwilligung als dem Wohl des Betreuten dienend beurteilt, unterliegt im Genehmigungsverfahren der vollen gerichtlichen Kontrolle.
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Daneben sind auch Wünsche des Betroffenen zu berücksichtigen, soweit sie dem Wohl des Betreuten nicht zuwiderlaufen (§ 1901 Abs. 3 Satz 1 BGB). Die Entscheidung des Gerichts muss sich deshalb auch daran orientieren, inwieweit der Betroffene sich selbst hinsichtlich der Behandlung äußert oder früher einmal geäußert hat. Das Gericht hat die Chancen und Risiken der ärztlichen Maßnahme unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gegeneinander abzuwägen.
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Bei einer Abwägung der hier für und gegen eine Amputation sprechenden Gesichtspunkte war die Genehmigung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – auch unter Berücksichtigung der von dem Betroffenen artikulierten Ablehnung dieser Maßnahme – jedoch zu erteilen.
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Ausweislich der nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Oberarztes Dr. med. D. M. vom 01.09.2021 und den Ausführungen des Herrn Dr. med. A. U. anlässlich des Anhörungstermins vom 02.09.2021 ist aus ärztlicher Sicht eine andere Behandlung der Gängran anstelle einer Amputation nicht möglich sei. Zudem entwickle sich bei dem Betroffene eine Sepsis (Blutvergiftung), so dass ohne Behandlung der Tod des Betroffenen zu erwarten sei.
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Diese – von der psychiatrischen Sachverständigen A. C. bestätigte – akute, gesundheitsgefährliche Situation lässt die Feststellung der Verhältnismäßigkeit der im Raum stehenden Amputation des linken Unterschenkels derzeit zu. Zwar verliert der Betroffene in hierdurch sein Bein, jedoch kann eine Sepsis (Blutvergiftung) verhindert werden.
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Das Risiko des Betroffenen zu sterben liegt ohne die geplante Amputation des linken Unterschenkels nach den sachverständigen Angaben bei 10 % bis 60 %. Insoweit kann hier mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden, dass es ohne die Amputation zu einer schweren und nicht nur lokal begrenzten sowie gegebenenfalls tödlichen Infektion kommt. Auch wird insoweit von den Ärzten eine konkrete – unverhältnismäßig verkürzte – Lebenserwartung im Falle des Unterlassens einer Amputation hier prognostiziert.
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Dass der Betroffene aufgrund einer durch die Gängran verursachten Folgeerkrankung mit ziemlicher Sicherheit binnen weniger Tage versterben wird, haben die sachverständigen Ärzte vorliegend bestätigen.
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Andererseits verbessert sich die Lebensqualität und -erwartung des Betroffenen bei einem erfolgreichen Verlauf der Amputation aller Voraussicht nach. Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist aufgrund des Ergebnisses der Ermittlungen des erkennenden Gerichts relativ groß, jedoch wird sie von Tag zu Tag bzw. Stunde zu Stunde geringer.
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Zwar bestehen auch bei der Amputation vielfältige und erhebliche Risiken, jedoch sind diese im Vergleich zu der akut bestehenden Gefahr einer tödlichen Sepsis (Blutvergiftung) nicht so gravierend.
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Die Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene die Operation überlebt ist wohl recht gut. Bei dieser Sachlage kommt die hier vom Betreuer beantragte Genehmigung nach § 1904 BGB aufgrund der bestehenden Verhältnismäßigkeit somit in Betracht.
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Der unzweifelhaft gefährliche Heileingriff kann hier nach § 1904 BGB somit noch als verhältnismäßig und genehmigungsfähig angesehen werden, da die Vorteile dieser Operation zumindest überwiegen. Dies ist hier insbesondere deshalb der Fall, da ansonsten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit kurzfristig ein Versterben des Betroffenen zu erwarten ist.