BGH, Beschluss vom 09. Mai 2018 – XII ZB 625/17
Die ausdrückliche Erwähnung des Erforderlichkeitsgrundsatzes in § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB soll verhindern, dass dem Betreuer formularmäßig und ohne eingehende Prüfung verhältnismäßig umfangreiche Aufgaben zugewiesen werden. Sofern die Aufenthaltsbestimmung allein der Verwirklichung der Gesundheitssorge dient, ist daher eine entsprechende Einschränkung des Aufgabenkreises geboten.(Rn.17)
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 19. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 16. November 2017 unter Zurückweisung der weitergehenden Rechtsbeschwerde teilweise aufgehoben und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Auf die Beschwerde der Betroffenen wird der Beschluss des Amtsgerichts Neuss vom 12. September 2017 unter Zurückweisung der weitergehenden Beschwerde aufgehoben, soweit der Aufgabenkreis der Betreuerin die Aufenthaltsbestimmung einschließlich der Entscheidung über Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen auch über den Bereich der Gesundheitssorge hinaus umfasst. Insoweit wird das Betreuungsverfahren eingestellt.
Das Beschwerde- und das Rechtsbeschwerdeverfahren sind gerichtskostenfrei. Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten findet nicht statt.
Wert beider Rechtsmittelverfahren: 5.000 €
Gründe
I.
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Die im Jahre 1969 geborene Betroffene leidet an einer schizophrenen Erkrankung. Diese geht in den akuten Krankheitsphasen mit einer schweren psychotischen Symptomatik und Realitätsverlust einher, so dass es zu einer in das Extreme gesteigerten Abkapselung und Unfähigkeit zur Kontaktaufnahme kommt und die Betroffene nicht in der Lage ist, Nahrung und Flüssigkeit zu sich zu nehmen.
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Bereits im Oktober 2004 hatte die Betroffene eine Patientenverfügung erstellt, wonach dann, wenn „keine Aussicht mehr auf Besserung im Sinne eines für mich erträglichen und umweltbezogenen Leben“ bestehe, keine lebenserhaltenden Maßnahmen oder künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr erfolgen sollten.
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Wegen ihrer Erkrankung musste die Betroffene Ende 2010/Anfang 2011, Mitte 2016 und ab März 2017 jeweils mehrere Monate lang stationär – teilweise unter Einsatz ärztlicher Zwangsmaßnahmen – behandelt werden. Im Zuge des letzten Krankenhausaufenthalts wurde die Beteiligte zu 1, eine Rechtsanwältin, zur vorläufigen Betreuerin der Betroffenen mit dem Aufgabenkreis Aufenthaltsbestimmung einschließlich der Entscheidung über Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen, Behördenangelegenheiten, Gesundheitssorge und Sozialversicherungsangelegenheiten bestellt.
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Nach weiteren Ermittlungen hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 12. September 2017 die Beteiligte zu 1 auch in der Hauptsache zur Betreuerin bestellt, dabei die Behörden- und die Sozialversicherungsangelegenheiten aus dem Aufgabenkreis herausgenommen und als spätesten Überprüfungszeitpunkt den 12. September 2019 bestimmt. Die von der Betroffenen mit dem Ziel der vollständigen Aufhebung der Betreuung eingelegte Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen.
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Hiergegen wendet sich die Betroffene mit ihrer Rechtsbeschwerde.
II.
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Die Rechtsbeschwerde hat teilweise Erfolg. Sie führt zur Einschränkung der Betreuung im Bereich der Aufenthaltsbestimmung insoweit, als sich die Aufenthaltsbestimmung einschließlich der Entscheidung über Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen auf den Bereich der Gesundheitssorge bezieht.
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1. Das Landgericht hat seine Entscheidung unter weitgehender Bezugnahme auf den Beschluss des Amtsgerichts wie folgt begründet: Die Betroffene sei zu einer kritischen und verantwortlichen Abwägung nicht in der Lage, was ihre Erkrankung und deren Behandlung angehe; ohne Intervention könnten die akuten Krankheitsphasen binnen kurzer Zeit einen tödlichen Verlauf nehmen. Die Betroffene beharre auf ihrer Patientenverfügung, um eine Behandlung abzulehnen, obwohl die Erkrankung behandelbar sei und die Lebensgefahr nur aus der Nichtbehandlung folge. Krankheitseinsicht bestehe nicht, der Wille zur Nichtbehandlung sei ausschließlich durch die psychische Erkrankung bedingt. Deshalb sei sie aus gesundheitlichen Gründen gehindert, ihre Angelegenheiten im angeordneten Aufgabenkreis interessengerecht zu regeln, und benötige insoweit Hilfe durch eine Betreuung.
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Die Betreuung sei zwar wegen der fehlenden Kooperation der Betroffenen schwierig, aber nicht undurchführbar. Anderweitige Hilfen bestünden nicht. Insbesondere sei der Vater der Betroffenen nicht mehr bereit, als Warnposten zu dienen, so dass bei akuter Erkrankung ein noch rechtzeitiges Eingreifen zukünftig nur im Rahmen der Betreuung erfolgen könne.
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2. Das hält rechtlicher Nachprüfung im überwiegenden Umfang stand.
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a) Nach § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB darf ein Betreuer nur bestellt werden, soweit die Betreuung erforderlich ist. Dieser Grundsatz verlangt für die Bestellung eines Betreuers die konkrete tatrichterliche Feststellung, dass sie – auch unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit – notwendig ist, weil der Betroffene auf entsprechende Hilfen angewiesen ist und weniger einschneidende Maßnahmen nicht in Betracht kommen. Die Erforderlichkeit einer Betreuung darf sich dabei nicht allein aus der subjektiven Unfähigkeit des Betroffenen ergeben, seine Angelegenheiten selbst regeln zu können (Betreuungsbedürftigkeit). Hinzutreten muss ein konkreter Bedarf für die Bestellung eines Betreuers. Ob und für welche Aufgabenbereiche ein objektiver Betreuungsbedarf besteht, ist aufgrund der konkreten, gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu beurteilen. Dabei genügt es, wenn ein Handlungsbedarf in dem betreffenden Aufgabenkreis jederzeit auftreten kann (st. Senatsrspr., vgl. etwa Senatsbeschlüsse vom 21. Januar 2015 – XII ZB 324/14 – FamRZ 2015, 649 Rn. 7 und vom 27. September 2017 – XII ZB 330/17 – FamRZ 2018, 54 Rn. 12 mwN).
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Trotz bestehenden Handlungsbedarfs kann es an der Erforderlichkeit der Betreuung unter anderem fehlen, wenn die Betreuung – aus welchem Grund auch immer – keinerlei Änderung der Situation des Betroffenen herbeizuführen geeignet ist und mit ihr daher keine Verbesserung zu Gunsten des Betroffenen erreicht werden kann. Das kommt nach der Senatsrechtsprechung unter engen Voraussetzungen etwa dann in Betracht, wenn der Betroffene jeden Kontakt mit seinem Betreuer verweigert und der Betreuer dadurch handlungsunfähig ist, also eine „Unbetreubarkeit“ vorliegt (vgl. Senatsbeschluss vom 27. September 2017 – XII ZB 330/17 – FamRZ 2018, 54 Rn. 13 mwN).
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b) Bei Anlegung dieses Maßstabs macht die Rechtsbeschwerde ohne Erfolg geltend, der für die Betroffene eingerichteten Betreuung fehle es schon deshalb an der Erforderlichkeit im Sinne des § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB, weil wegen der Patientenverfügung und der Behandlungsverweigerung durch die Betroffene ein Fall der tatsächlichen Unbetreubarkeit vorliege.
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Nach den rechtlich beanstandungsfrei getroffenen tatrichterlichen Feststellungen kann bei der eine vorbeugende medikamentöse Behandlung verweigernden Betroffenen jederzeit eine erneute akute Krankheitsphase auftreten, die dann eine ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts mit Einwilligung der Betreuerin (§ 1906 a BGB) erfordern kann. Einer solchen Zwangsbehandlung steht die von der Betroffenen erstellte Patientenverfügung nicht entgegen, weil sie – wie die Vorinstanzen zutreffend ausgeführt haben – nur Krankheitsverläufe erfasst, die nicht im Sinne einer Verbesserung der gesundheitlichen Situation behandelbar sind. Um einen solchen geht es jedoch weder bei der psychischen Erkrankung der Betroffenen noch bei den aus der Abkapselung mit Unfähigkeit zur Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme folgenden Zuständen. Mithin hat die Betreuerin die Möglichkeit, durch rechtliche Entscheidungen positiv auf die Lage der Betroffenen einzuwirken.
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c) Teilweise zu Recht wendet sich die Rechtsbeschwerde jedoch gegen den Umfang des angeordneten Aufgabenkreises.
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aa) Keinen rechtlichen Bedenken begegnet insoweit allerdings, dass die Gesundheitssorge ohne Einschränkungen und damit umfassend in den Aufgabenkreis aufgenommen worden ist. Selbst wenn als Ursache für medizinische Behandlungsmaßnahmen nur die psychische Erkrankung der Betroffenen absehbar ist, können die sich in einer akuten Krankheitsphase aus ihr ergebenden gesundheitlichen Komplikationen – wie die Vergangenheit gezeigt hat – weit darüber hinaus gehen und sind einer näheren Eingrenzung nicht zugänglich. Vielmehr kann sich insoweit ein umfassender Handlungsbedarf für die Betreuerin ergeben.
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bb) Anders liegt es aber für den Bereich der Aufenthaltsbestimmung. Der angefochtenen Entscheidung und dem von dieser in Bezug genommenen amtsgerichtlichen Beschluss ist zu entnehmen, dass ein den Bereich der Aufenthaltsbestimmung einschließlich der Entscheidung über die Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen betreffender Handlungsbedarf nur im Zusammenhang mit der Gesundheitssorge absehbar ist und damit jederzeit auftreten kann. Dass für die Betroffene neben Entscheidungen über den Aufenthaltsort, an dem Behandlungsmaßnahmen zum Wohl der Betroffenen vorzunehmen sind, auch solche etwa zu ihrem Wohnort zu treffen sind, ist vom Tatrichter weder festgestellt noch anderweitig ersichtlich.
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Mit der ausdrücklichen Erwähnung des Erforderlichkeitsgrundsatzes in § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB sollte nach dem Willen des Gesetzgebers aber gerade verhindert werden, dass dem Betreuer formularmäßig und ohne eingehende Prüfung verhältnismäßig umfangreiche Aufgaben zugewiesen werden, etwa die gesamte Vermögenssorge und die Aufenthaltsbestimmung (BT-Drucks. 11/4528 S. 58, 120). Sofern – wie hier – die Aufenthaltsbestimmung allein der Verwirklichung der Gesundheitssorge dient, ist daher eine entsprechende Einschränkung geboten (vgl. BayObLG FamRZ 1994, 1060, 1061; vgl. auch Staudinger/Bienwald BGB [2017] § 1896 Rn. 203 ff.).
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3. Soweit das Landgericht die Entscheidung des Amtsgerichts, der Betreuerin die Aufenthaltsbestimmung einschließlich der Entscheidung über Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen über den Bereich der Gesundheitssorge hinaus zu übertragen, bestätigt hat, ist die Beschwerdeentscheidung daher gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben. Da keine weiteren Feststellungen zu treffen sind, entscheidet der Senat nach § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG in der Sache selbst.
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Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).