BGH, Beschluss vom 10. Juni 2020 – XII ZB 215/20
1. Auch bei einer bereits länger andauernden Unterbringung setzt die gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB erfolgende (weitere) zivilrechtliche Unterbringung eine – nach wie vor bestehende – ernstliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Betroffenen voraus (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 14. März 2018, XII ZB 629/17, BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950).(Rn.10)
2. Besonderheiten können sich bei einer bereits mehrere Jahre währenden Unterbringung allerdings mit Blick auf die Feststellung der von § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB vorausgesetzten Gefährdung von Leib oder Leben des Betroffenen und die hierfür gebotene Begründungstiefe der gerichtlichen Entscheidung sowie für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung ergeben (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 14. März 2018, XII ZB 629/17, BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950).(Rn.11)
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Der Betroffenen wird gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg vom 24. Januar 2020 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt (§ 17 FamFG).
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der vorgenannte Beschluss aufgehoben, soweit die Beschwerde der Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Celle vom 1. Juli 2019 zurückgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
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Die im Jahre 1941 geborene Betroffene wendet sich gegen die Genehmigung ihrer Unterbringung. Sie leidet an einer chronifizierten paranoiden Schizophrenie sowie einer der medikamentösen Behandlung bedürfenden Hypertonie. Für die Betroffene ist eine Berufsbetreuerin bestellt, deren Aufgabenkreis die Aufenthaltsbestimmung und die Gesundheitssorge umfasst.
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Jedenfalls seit dem 21. Mai 2012 ist die Betroffene mit betreuungsgerichtlicher Genehmigung in einem Alten- und Pflegeheim untergebracht. Die Betreuerin hat beantragt, die am 3. Juli 2019 ablaufende Unterbringungsgenehmigung zu verlängern. Daraufhin hat das Amtsgericht eine als „Gutachten“ bezeichnete, gut zweiseitige ärztliche Stellungnahme eingeholt, die Betroffene im Beisein der Verfahrenspflegerin angehört und dann die weitere Unterbringung bis einschließlich 9. April 2021 genehmigt.
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Der Beschwerde der Betroffenen hat das Amtsgericht nach Einholung eines – am 16. September 2019 bei Gericht eingegangenen – Sachverständigengutachtens einer weiteren Ärztin nicht abgeholfen. Das Landgericht hat die Betroffene durch den Berichterstatter der Kammer als beauftragten Richter angehört. Im Anschluss daran hat es unter anderem ein ergänzendes Sachverständigengutachten eines Facharztes für Psychiatrie eingeholt und dann die Beschwerde im Wesentlichen zurückgewiesen. Stattgegeben hat es ihr nur insoweit, als es die Rechtswidrigkeit der Unterbringungsgenehmigung für den Zeitraum vom 4. Juli 2019 bis zum 16. September 2019 festgestellt hat.
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Gegen die Zurückweisung ihrer Beschwerde im Übrigen wendet sich die Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.
II.
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Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, soweit die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen worden ist, und insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
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1. Dieses hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Aufgrund der Erkrankung der Betroffenen bestehe eine erhebliche Eigengefährdung. Wie sich aus dem ergänzenden Sachverständigengutachten ergebe, habe die Betroffene in der Zeit vor der geschlossenen Unterbringung innerhalb von drei Monaten die verordnete und empfohlene Medikation abgesetzt und sei daraufhin wiederholt in akute psychotische Zustände mit hoher Wahndynamik und Affektspannung gekommen. Aufgrund dieser Vorgeschichte sei mit einer über 70%igen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Betroffene nach Aufhebung des aktuellen Unterbringungsbeschlusses zumindest die antipsychotische Medikation in einem überschaubaren Zeitrahmen absetzen werde. Hinzu komme, dass die Behandlung des labilen Bluthochdrucks der Betroffenen bislang nicht zufriedenstellend gelinge und – wie sich aus der Pflegedokumentation des Heimes ergebe – vor allem die abendliche Einnahme des blutdrucksenkenden Medikaments unregelmäßig erfolgt sei. Ohne die neuroleptische Medikation sei die Betroffene nicht in der Lage, die Bluthochdruckbehandlung in angemessener Weise fortzuführen, und das Risiko von Komplikationen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall nehme zu. Im Weiteren seien Gefährdungslagen durch Mangelernährung, Verwahrlosung und Überschätzung der eigenen Fähigkeiten denkbar.
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Mildere Mittel als die Unterbringung lägen derzeit nicht vor, um diese Eigengefährdung zu verhindern. Das begründe sich vor allem in der autistisch geprägten Beziehungsgestaltung der Betroffenen, die es verhindere, dass tragfähige Beziehungsmuster entstünden. Versuche, die Betroffene in engmaschige Betreuungskontakte z. B. durch ambulante psychiatrische Pflege einzubinden, hätten sich als weitgehend wirkungslos erwiesen und seien gescheitert. Gegen die Dauer der Unterbringungsgenehmigung sei nichts zu erinnern. Die Gefährdungslage werde höchstwahrscheinlich noch andauern.
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2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Auf der Grundlage der bislang getroffenen Feststellungen ist die Annahme des Landgerichts, bei der Betroffenen liege eine die zivilrechtliche Unterbringung rechtfertigende Selbstgefährdung im Sinne des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB vor, rechtsfehlerhaft.
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a) Die Grundrechte eines psychisch Kranken schließen einen staatlichen Eingriff nicht aus, der ausschließlich den Zweck verfolgt, ihn vor sich selbst in Schutz zu nehmen und ihn zu seinem eigenen Wohl in einer geschlossenen Anstalt unterzubringen. Die zivilrechtliche Unterbringung ist – wie das Betreuungsrecht insgesamt – ein Institut des Erwachsenenschutzes als Ausdruck der staatlichen Wohlfahrtspflege, deren Anlass und Grundlage das öffentliche Interesse an der Fürsorge für den schutzbedürftigen Einzelnen ist. Deshalb kann die geschlossene Unterbringung zur Vermeidung einer das Leben oder die Gesundheit des Betroffenen erheblich bedrohenden Selbstgefährdung auch dann genehmigt werden, wenn eine gezielte Therapiemöglichkeit nicht besteht und der Betroffene seinen Willen nicht frei bestimmen kann. Die mithin nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB mögliche zivilrechtliche Unterbringung durch einen Betreuer wegen Selbstgefährdung des Betroffenen verlangt keine akute, unmittelbar bevorstehende Gefahr. Notwendig, aber auch ausreichend ist eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Betreuten. Der Grad der Gefahr ist in Relation zum möglichen Schaden ohne Vornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bemessen. Die Gefahr für Leib oder Leben erfordert kein zielgerichtetes Verhalten des Betroffenen, so dass etwa auch eine völlige Verwahrlosung ausreichen kann, wenn damit eine Gesundheitsgefahr durch körperliche Verelendung und Unterversorgung verbunden ist. Das setzt allerdings objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens voraus. Die Prognose einer nicht anders abwendbaren Suizidgefahr oder einer Gefahr erheblicher gesundheitlicher Schäden ist im Wesentlichen Sache des Tatrichters (Senatsbeschluss BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 13 f. mwN).
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Für die zivilrechtliche Unterbringungsgenehmigung zur Verhinderung der Selbstgefährdung eines bereits untergebrachten Betroffenen gelten insoweit bei einer – wie im vorliegenden Fall – schon mehrere Jahre andauernden Freiheitsentziehung keine anderen materiell-rechtlichen Anforderungen. Der Gefährdungsbegriff des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB bleibt unverändert, so dass die (weitere) Unterbringung eine – ohne die Freiheitsentziehung nach wie vor bestehende – ernstliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Betroffenen voraussetzt. In verfahrensrechtlicher Hinsicht sieht § 329 Abs. 2 Satz 1 FamFG für die Verlängerung der Genehmigung oder Anordnung einer Unterbringungsmaßnahme vor, dass die Vorschriften für die erstmalige Anordnung oder Genehmigung entsprechend gelten. Nach § 329 Abs. 2 Satz 2 FamFG soll das Gericht allerdings bei einer Unterbringung mit einer Gesamtdauer von mehr als vier Jahren keinen Sachverständigen bestellen, der den Betroffenen bisher behandelt oder begutachtet hat oder in der Einrichtung tätig ist, in der der Betroffene untergebracht ist. Damit soll vermieden werden, dass eine Unterbringung über einen Zeitraum von vier Jahren hinaus aufrechterhalten wird, ohne dass ihr das Gutachten eines außenstehenden Sachverständigen zugrunde liegt (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 15 f. mwN).
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Darüber hinausgehende Besonderheiten können sich bei einer bereits mehrere Jahre währenden Unterbringung allerdings mit Blick auf die Feststellung der von § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB vorausgesetzten Gefährdung von Leib oder Leben des Betroffenen und die hierfür gebotene Begründungstiefe der gerichtlichen Entscheidung sowie für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung ergeben. Denn der durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 iVm Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verfassungsrechtlich geschützte Anspruch auf persönliche Freiheit gewinnt mit Fortdauer der zivilrechtlichen Unterbringung an Gewicht, weil die Intensität des Grundrechtseingriffs zunimmt. Die Dauer der zivilrechtlichen Unterbringung beeinflusst mithin ebenfalls die Anforderungen an die Begründung der gerichtlichen Entscheidung. Für die im Rahmen des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB zu treffende Prognose, welcher Gefährdung von Leib oder Leben der Betroffene ohne eine freiheitsentziehende Unterbringung ausgesetzt wäre, muss die bereits verstrichene Unterbringungszeit berücksichtigt und geprüft werden, ob angesichts des Zeitablaufs die Selbstgefährdung in der für eine Unterbringung erforderlichen Intensität fortbesteht. Die die Gefährdungsprognose ursprünglich tragenden tatsächlichen Umstände werden mit wachsendem zeitlichen Abstand nicht selten an Gewicht verlieren, während die Entwicklung des Betroffenen in der Unterbringung Anhaltspunkte für eine geringere Wahrscheinlichkeit des Eintritts erheblicher Gesundheitsschäden oder gar einer Lebensgefahr außerhalb der Unterbringung liefern kann. Dies kann letztlich dazu führen, dass allein wegen des Zeitraums, in dem der Betroffene untergebracht war, eine hinreichend sichere Gefährdungsprognose nicht mehr möglich und daher die Beendigung der Unterbringung geboten ist. Zugleich wird sich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit bei der Prüfung des Vorliegens milderer Mittel in Fällen einer lang andauernden Unterbringung die Frage aufdrängen, inwieweit es inzwischen vertretbar und praktisch durchführbar ist, dass der Betroffene – etwa in einer betreuten, aber offenen Wohnform mit entsprechend engmaschiger Begleitung – wieder ein Leben außerhalb der Unterbringung führt. Die tatrichterliche Entscheidung muss im Einzelnen offenlegen, dass der erkennende Richter diese Einflussmöglichkeiten der bereits verstrichenen Unterbringungsdauer auf die Frage des Fortbestehens der Unterbringungsvoraussetzungen erkannt und wie er sie in deren Prüfung hat einfließen lassen (Senatsbeschluss BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 17 ff. mwN).
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b) Diesen rechtlichen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht.
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aa) Wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt, genügen bereits die tatrichterlichen Feststellungen zur Gefährdungsprognose nicht den aus dem Amtsermittlungsgrundsatz des § 26 FamFG folgenden Erfordernissen. Soweit das Landgericht darauf abstellt, dass die Betroffene in der Vergangenheit ihre antipsychotische Medikation selbständig abgesetzt habe, bleibt nämlich unklar, wie lange dies zurückliegt und wie häufig es vorgekommen ist. Zudem fehlt es an tatrichterlichen Feststellungen dazu, wie sich die inzwischen verstrichene langjährige Unterbringungszeit auf dieses Risiko und die damit verbundenen Folgen auswirkt.
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bb) Zudem trifft auch die vom Landgericht vorgenommene Prüfung der Verhältnismäßigkeit auf durchgreifende Rechtsbedenken.
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Das folgt – unbeschadet des Umstands, dass nicht erkennbar wird, ob das Landgericht bei seinen knappen Überlegungen hierzu die bereits fast achtjährige Unterbringungsdauer berücksichtigt hat – schon daraus, dass das Landgericht als Alternative allein die Möglichkeit einer ambulanten Betreuung in den Blick genommen hat. Es hat hingegen nicht erörtert, inwieweit für die Betroffene in einer betreuten, aber offenen Wohnform mit entsprechend engmaschiger Begleitung die notwendige Tagesstruktur gewährleistet und ihre medizinische (medikamentöse) Versorgung sowie die Befriedigung ihrer existenziellen Grundbedürfnisse wie Nahrungsaufnahme und Hygiene sichergestellt werden können. Diese Frage hätte sich umso mehr aufgedrängt, als sich sowohl aus dem vom Amtsgericht im Abhilfeverfahren eingeholten Sachverständigengutachten als auch aus dem landgerichtlichen Anhörungsprotokoll sowie dem vom Landgericht eingeholten ergänzenden Sachverständigengutachten ergibt, dass der Betroffenen vom Alten- und Pflegeheim tagsüber offensichtlich unbeschränkt und unbegleitet Ausgang gestattet wird.
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Darüber hinaus macht die Rechtsbeschwerde zutreffend geltend, dass sich der angefochtenen Entscheidung keine Feststellungen zu Art, Zeitraum und Dauer der gescheiterten Versuche einer ambulanten Betreuung der Betroffenen entnehmen lassen. Die Bejahung der Verhältnismäßigkeit durch das Landgericht entbehrt deshalb einer tragfähigen Tatsachengrundlage.
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3. Die Beschwerdeentscheidung ist daher im Umfang der Anfechtung aufzuheben (§ 74 Abs. 5 FamFG). Die Sache ist insoweit an das Landgericht zurückzuverweisen, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG).
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Dieses wird unter Anlegung der zutreffenden rechtlichen Maßstäbe nun die erforderlichen Feststellungen zu treffen und dabei auch die nach Einholung des ergänzenden Sachverständigengutachtens bislang rechtsfehlerhaft unterbliebene (vgl. etwa Senatsbeschluss vom 3. Juli 2019 – XII ZB 62/19 – FamRZ 2019, 1648 Rn. 12 ff. mwN) persönliche Anhörung der Betroffenen durch die gesamte Kammer (vgl. etwa Senatsbeschluss vom 11. Juli 2018 – XII ZB 72/18 – FamRZ 2018, 1594 Rn. 2 ff. mwN) durchzuführen haben. Bei Vorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen hat das Landgericht sich zudem unter Beachtung der rechtlichen Maßgaben mit der Frage auseinanderzusetzen, ob und inwieweit die Voraussetzungen für die nur bei offensichtlich langer Unterbringungsbedürftigkeit mögliche Überschreitung der von § 329 Abs. 1 Satz 1 FamFG vorgegebenen einjährigen Höchstfrist gegeben sind (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 34 mwN).
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Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).